Hana Gasic

Portrait of Hana Gasic and her brother Rafael Montiljo
Familienhintergrund

Ich bin die Tochter von Menahem und Flora Montiljo. Ich wurde am 27. Juli 1940 in Sarajevo geboren. Ich habe einen Bruder, Rafael, der während des Kriegs am 22. März 1943 geboren wurde.

Die Eltern meines Vaters, Mose und Hana Montiljo Hahasid („der Fromme“), hatten elf Kinder. Diese Familie wurde Montiljo Hahasid genannt, um von den ganz vielen anderen Montiljos in Sarajevo zu unterscheiden und um sie als eine besonders religiöse Familie anzuerkennen. Mein Großvater wurde in den 1870er geboren und arbeitet als Textilhändler in Sarajevo. Er starb in 1941 – vor dem Ausbruch des Krieges. Seine Frau, meine Nonna [Ladino für Großmutter] Hana, lebte viel länger. Während des Kriegs versteckte sie sich mit ihrem Sohn, Jozef, in Sarajevo. Nach dem Krieg entschloss sie sich, den Rest ihres Lebens in Israel zu verbringen. Sie dachte, es würde eh nicht so lange dauern. Doch sie lebte noch 23 Jahre, bis 1970, als sie mit 96 starb. Da sie gegangen war, kam sie nie zurück nach Jugoslawien. Sie ging mit zwei von ihren drei noch lebenden Kindern, ihren Söhnen – Jozef und Leon, meine Onkel.

Mein Vater war der einzige Bruder, der in Jugoslawien zurückblieb. Er hörte die Geschichten über das Leben in Israel, aber glaubte nicht, dass er es dort hätte schaffen könnten. Als ausgebildeter Schneider dachte er, er würde nur in einer Textilfabrik arbeiten müssen und keine Zeit für seine eigenen Kreationen haben. Also blieb er in Sarajevo. Er besuchte 1957 meine Nonna und seine Brüder. Ich erinnere mich nicht mehr an seine Reise oder an seine Rückkehr. Ich erinnere mich auch nicht mehr daran, ob er seine Entscheidung in Sarajevo zu bleiben deswegen infrage stellte. Beide seiner Brüder mussten in Israel viel kämpfen, deshalb bereute er seine Entscheidung wohl nicht.

Meine Mutter, Flora Montiljo (geboren Kohen), wurde am 31. Dezember 1913 in Sarajevo geboren. Ihre Eltern hießen Klara und Rafael Kohen. Sie hatte vier Schwestern und einen Bruder. Meine Nonna Klar starb als meine Mutter erst 13 Jahre alt war. Danach übernahm der Bruder eine zentrale Rolle innerhalb der Familie. Mein Großvater hatte in Sarajevo seine Metzgerei und nach seinem Tod übernahm diese auch der Bruder meiner Mutter. Ich bin mir nicht sicher, ob es rein koscher war, ob das Fleisch nach den religiösen Vorschriften von einem Schochet [rituales Schächten] geschächtet und kascheriert [koscher gemacht] wurde. Damals wurde Sarajevo stark von ihrer muslimischen Bevölkerung geprägt. Es war deswegen schwierig Schweinefleisch in dem Ort zu finden.

Meine Mutter war auf einer Mädchenschule und lernte, wie man ganz nett bestickt. Das mochte sie sehr, doch sie war wegen ihren Aufgaben für das Familiengeschäft oft zu beschäftigt dafür. Unter anderem war sie dafür zuständig, das Fleisch zu liefern. Auf zwei der Fotos in meinem Album sieht man mein Vater als Samuel der Träger, eine Figur aus einer Kurzgeschichte desselben Namens, von Isak Samokovlija, einem jüdischen Schriftsteller aus Sarajevo. Die Geschichte geht um einen Mann, der Fisch an die jüdische Familie Sarajevos liefert. Es ist ironisch, dass meine Mutter irgendwie diese Rolle tatsächlich spielte. Wie der fiktive Samuel, erzählte meine Mutter gerne Geschichte über die verschiedenen Familien, die sie belieferte. Viele davon hatten jüdischen Namen, doch weiß ich nicht, ob ihre Kundschaft ausschließlich jüdisch war. Sie erzählte immer davon, welche Familien Trinkgeld gaben, welche zu geizig oder arm dafür waren, welche ihr Kuchen und Süßigkeiten mitgaben und andere Sachen über die Familien.

Da der Bruder meiner Mutter nach dem Tod ihres Vaters Familienoberhaupt wurde, war es meiner Mutter und ihren Schwestern umso furchtbarer, dass er am Anfang des Krieges weggenommen und nie wiedergesehen wurde. Er spielte gerne Karten mit seinen Kumpels, was er sehr oft machte. Eines Abends, als er vom Kartenspielen zurück nachhause kam, erschien plötzlich sein Kumpel, bei dessen Haus er gerade war, vor der Tür. Er informierte meinen Onkel, dass ihm befohlen wurde, meinen Onkel abzuliefern. Er versicherte meiner Mutter und ihre Schwestern, dass ihr Bruder zurückkommen würde. Trotz seiner Beteuerungen hörte meine Mutter nie wieder von ihrem Bruder.

Vor dem Krieg heiratete ihr Bruder eine slowenische Frau namens Kristina und sie hatten zwei Töchter, Makica und Evica. Sie wurden von Kristinas Mutter gerettet, eine nicht-jüdische slowenische Frau, und wohnten in Sarajevo nach dem Krieg.

Zwei Schwestern meiner Mutter wurden während des Kriegs umgebracht. Meine Mutter erhielt nie eine offizielle Angabe darüber wo und wann, aber sie war überzeugt davon, dass sie im Gjakovo oder Nova Gradiska, zwei Konzentrationslager [Anm. von der kroatischen Ustascha betrieben], umgebracht worden waren. Ihre andere zwei Schwestern überlebten nur deshalb, weil sie vor dem Krieg Nichtjuden geheiratet hatten. Ihre Schwester Ela war mit einem katholischen Mann names Zvonko Gjebic verheiratet. Sie konvertierte und änderte ihr Namen zu Jela. Trotz der Namenänderung, wurde sie von ihrer Mutter immer Ela – Tante Ela von uns – genannt. Sie wohnten in Užice, Serbien, wo Zvonko in der Munitionsfabrik Foma arbeitete. Die andere Schwester meiner Mutter, Rivka, heiratete einen Juden vor dem Krieg. Aber ihr Mann starb und sie heiratete wieder vor dem Krieg, diesmal einen muslimischen Mann namens Karahasanovic. Sie hatten zwei Kinder, Zlata und Ahmed. Herr Karahasanovic starb während des Kriegs bei der Reinigung seines Gewehrs. Ahmed, der 1943 geboren wurde, sah niemals seinen Vater.

Meine Eltern

Beide Eltern stammten aus traditionelle Sarajevo Familien und wie viele solche Familien, verfügten sie nur über bescheidene Geldmittel. Als die Schwestern meiner Mutter dann Nicht-Juden heirateten, was es daher nicht so schlimm wie es gewesen wäre, hätten sie mehr Geld gehabt. Wenn man arm ist, nimmt man, was man kriegen kann und viele Nichtjuden waren nicht auf der Suche nach Mitgift.

Meine Eltern lernten sich in der jüdischen Gemeinde kennen – entweder bei La Benevolencija oder Matatija, den beiden sozialen Vereinen. Fünf oder sechs Jahre lang sahen sie sich sozial und warben um sich. Als sie in 1939 heirateten, hatten sie eine standesamtliche sowie eine jüdische Hochzeit. Mein Vater arbeitete als Schneider bei einem privaten Kleidungsladen von Gavro Perkusic. Nach der Hochzeit kauften sie ein kleines Haus in der Gornja-Mandjija-Straße in einer völlig muslimischen Gegend am Stadtrand. Das Haus war zweistöckig. Unsere Familie wohnte oben in einer Wohnung mit Eingang, Küche, und einem Zimmer, in dem wir alle schliefen. Die Schwester meiner Mutter, Rivka, wohnte unten mit ihren Kindern. Nachdem ihr Mann starb, hatte sie Schwierigkeiten damit, sich zu versorgen, deswegen ließen sie meine Eltern bei uns wohnen und verlangten niemals Miete von ihr.

Das Aufwachsen im Krieg

Während des Krieges wurden mein Vater und wir von dem Chef meines Vaters, Gavro Perkusic, geschützt. Wenn er von einer geplanten Razzia mitbekam – generell um Juden und Serben zu sammeln – versteckte er meinen Vater in seinem Laden bis es vorbei war. Mehrmals wurden meine Mutter, mein Bruder und ich eingesammelt und zum Gefangenenlager gebracht und er konnte uns befreien lassen. Bis auf diese Male verbrachten meine Mutter, mein Bruder und ich den Krieg zuhause. Während des ganzen Krieges hatte meine Mutter einen Rucksack mit allen unseren wichtigsten Habseligkeiten und notwendigen Sachen drin. Immer als wir gesammelt wurden, war das das Einzige, was wir mitnahmen. Im Krieg war meine Mutter gezwungen, ihr Brautkleid gegen vier Kilo Mehl und ein Stück Seife zu verkaufen.

Geschützt wurden wir auch wegen des Standorts unserer Straße und weil die Gegend eine von armen Muslimen war. Wir wohnten in einer steilen, engen Straße, die für die Polizisten bestimmt entmutigend aussah als die hierhergeschickt wurden um Juden zu suchen. Oft riefen die einfach durch die Straßen, ob es noch Juden gibt. Die Nachbaren erwiderte immer damit, dass alle schon weggeschleppt wurden. Ich wette die Persönlichkeit meiner Mutter und ihrer Rolle in der Gemeinde auch dazu führte, dass wir geschützt wurden. Sie war eine der wenigen belesenen Frauen in der Gegend. Wie die meisten jüdischen Frauen zu der Zeit in Sarajevo, erhielt meine Mutter eine Grundausbildung und konnte deswegen schreiben und lesen. Die meisten muslimischen Frauen hatte so eine Ausbildung nicht und konnten weder schreiben noch lesen. Wenn sie solcher Fähigkeiten bedurften, kamen sie für Hilfe immer auf meine Mutter zu. In der Regel verstand sie sich sehr gut mit allen Nachbarn und sie sich mit ihr. Das ist auch ein Grund dafür, warum wir im Krieg nicht erwischt wurden.

Nach dem Krieg

Als ich ungefähr 12 Jahre alt war, renovierten meine Eltern die Wohnung und bauten ein kleines Zimmer für mich und Rafo. Obwohl wir ziemlich arm waren, hatten meine Eltern ein englisches Klosett mit fließenden Wasser unten und dazu auch eine Wäschekammer – noch ein Zimmer mit fließenden Wasser, was die meisten Nachbarn von uns nicht hatten. Später, kurz bevor ich heiratete, baute meine Eltern noch ein Badezimmer oben an. Von der Wäschekammer aus erreichte man einen kleinen Garten, wo mein Vater gerne seine Freizeit verbrachte.

Neben Serbisch-Kroatisch sprachen meine beiden Eltern auch Ladino, wie mein Bruder und ich. Im Laufe der Jahre wurde wenige Ladino gesprochen, aber war noch in unseren Gesprächen verbreitet. Meine Mutter kombinierte immer serbisch-kroatische Wörter mit Ladino. Zum Beispiel sagte sie immer „noc de Purim“ – noc heißt „Abend“ auf serbisch-kroatisch, „de“ heißt „von“ auf Ladino und Purim ist natürlich der jüdische Feiertag.

Wir waren die einzige jüdische Familie in unserer Straße. In der Schule waren normalerweise ein oder zwei Juden in jedem Jahrgang. Buka Kamhi, ein weiteres jüdisches Mädchen, war der ganzen Oberschule bei mir in der Klasse und wir wurden beste Freundinnen. Wir sind immer noch beste Freundinnen, obwohl sie in England lebt. Ihr Vater, Haim Kamhi, war ein sehr gebildeter und intelligenter Mann, ein Jude par excellance. Er gehörte zu den Wenigen, die nach dem Krieg immer noch voll mit Judentum engagiert waren, die alle Feiertage und Schabbat ernsthaft wahrnahmen. Es gab viele, die ihre Wahrnehmung der jüdischen Feiertagen versteckten oder diese gar nicht mitmachten. Doch Herr Kamhi übte seine Religion frei und ganzherzig aus. Er war auch Jahrelang Präsident der jüdischen Gemeinde in Sarajevo.

Nach dem Krieg, 1949, fing mein Vater an als Schneider im Nationaltheater zu arbeiten und arbeitete dort durchgehend bis zu seinem Tod. Neben dieser Vollzeitstelle, hatte er auch Privatkunden und stellte unsere gesamte Kleidung her. Mein Vater arbeitete hart und legte immer Geld für Sommerurlaube zurück. Die meisten in der Gegend fuhren nicht weg, aber mein Vater sorgte jeden Sommer dafür, dass wir ans Meer fuhren. Dort brachte er meinem Bruder und mir das Schwimmen bei, während meine Mutter vom Strand zusah, da sie nicht schwamm.

Mein Vater war sehr aufgeschlossen. Er sang ganz gern, vor allem Lieder auf Ladino, und trank und aß mit Freunden gern. Meine Mutter war ein bisschen zurückhaltender, ein bisschen weniger sozial, und sie warnte ihn immer vor Übertreibung. Selten sprach sie über ihre Erfahrungen im Krieg. Mein ganzes Wissen darüber erhielt nach und nach im Laufe der Jahre – von ihr, sowie von Verwandten und Freunden. Nach dem Krieg vermied meine Mutter gelbfarbige Klamotten. Die Farbe trug ich mein ganzes Leben fast auch nicht, obwohl es mit meinem Kolorit gut passen würde. Irgendwann fing ich an, nach und nach mehr Gelb einzubeziehen, doch meine Mutter fühlte sich immer unwohl, wenn ich diese Farbe trug.

Nach dem Krieg waren meine Eltern in der lokalen Gemeinde und im Leben der jüdischen Gemeinde beide sehr aktiv. Mein Vater erhielt auch einige Auszeichnungen für seine Taten. Er engagierte sich auf der Ebene des sozialen Handelns und Gemeindeaufbau; er mischte sich nicht in Politik ein. Im Krieg waren er und sein Chef in der Oppositionsbewegung aktiv. Er hatte auch Kontakt zu einer illegalen Druckerei in unserer Straße. Nach dem Krieg kämpfte er dafür, das Haus unter Denkmalschutz zu bringen. Irgendwann brachten sie eine Tafel an, die mit einer Glühbirne ausgestattet war. Mein Vater war ihr selbsternannter Verwalter: er sorgte immer dafür, dass die Stadt die Glühbirne nach deren Ausbrennen auswechselt.

In der jüdischen Gemeinde war mein Vater Ausschussmitglied und einer der Wenigen, der nach dem Krieg regelmäßig bei religiösen Anlässen mitmachte. Er war jeden Freitagabend beim Gottesdienst, je nach Wetterlage. Da wir auf einer steilen, schmalen Straße am Stadtrand wohnten, war es ihm beim schlechten Wetter unmöglich, in die Synagoge zu gehen. Er war einer von ungefähr 20 Männern, der jedes Jahr beim Pesach-Sederabend war. Obwohl er immer da war, leitete er nie die Gottesdienste oder religiösen Veranstaltungen.

Meine Mutter war auch aktives Mitglied der lokalen sowie der jüdischen Gemeinden. Nach dem Krieg nahm sie an Verbesserungsarbeiten in der Gegend teil, half weiter den analphabetischen Frauen und ermutigte sie dazu, weiter zu lernen. Für die jüdische Gemeinde half sie, das Essen für den Sederabend und sonstige Veranstaltungen vorzubereiten – vor allem die lokumikus [leichte Kekse aus Eier und Mehl] und enhaminados [hartgekochte Eier].

Unser religiöses Leben

Nach dem Krieg behielt unsere Familie einige religiöse Bräuche bei – wohl mehr als der Durchschnittsjude in Sarajevo zu dieser Zeit. Am Eingang der Wohnung brachten meine Eltern eine Mesusa an, doch drinnen gab es keine religiösen Gegenstände. Mein Bruder wurde im Krieg geboren und sofort danach organisierte mein Vater mit Rabbi Menahem Romano, dem letzten Rabbi Sarajevos, die Brit Mila für ihn zu machen. Mein Bruder erlitt wegen dieser Brit Mila Erschwerungen, unter anderem ein Stottern von dem Stress. Während der Pubertät war sein Stottern ganz schlimm, doch nach Therapie und Zeit wurde es besser. An Rabbi Menahem Romano erinnere ich mich nur noch als alten Mann, vor dem wir als Kinder Respekt hatten.

Meine Mutter nahm Schabbat nur insofern wahr, dass sie einige Sachen nicht machte. Samstag war in vielen Hinsichten ein normaler Arbeitstag, doch meine Mutter achtete drauf, nicht zu reisen oder unnötige Hausarbeiten, wie Wäsche waschen oder putzen, zu übernehmen. Samstags gingen meine Eltern gerne spazieren, auch zum Kaffee beim Hotel Europa im Zentrum Sarajevos. Immer wenn wir neue Kleidung hatten, mussten wir darauf warten, bis wir sie zum ersten Mal an einem Samstag tragen durften.

Zu den Hohen Feiertagen und zum Pessach gingen wir zu El-Kal – unser Wort für die Synagoge. Als Kind wollte ich das Blasen des Schofars [Widderhorn] nie verpassen. Ich interessierte mich wahrscheinlich deshalb immer für die Gottesdienste, weil die eine Art Neuigkeit waren, die nur ein paar Mal im Jahr stattfanden. In der Synagoge saßen wir immer oben bei den Frauen. Vor Jom-Kippur ging ich mit meiner Mutter zum alten jüdischen Friedhof, um die Gräber meiner Großeltern mit Eimer und Lappen zu waschen. Meine Mutter sorgte auch dafür, ihre Streits immer vor Jom-Kippur beizulegen. Die Verwandten und Freunde, mit denen meine Mutter im vergangen Jahre gestritten hatte, waren wieder willkommen bei uns. Während dieser Feiertage aßen wir normalerweise Lamm mit Kastanien, je nachdem ob es welche gab. Meine Mutter und Vater fasteten immer am Jom-Kippur, aber zwangen meinen Bruder und mich nie mitzufasten. Als mein Vater am Jom-Kippur zurück von El-Kal kam, aßen wir immer zuerst lokumikus und tranken Kaffee mit Milch (sogar mit mehr Milch als Kaffee).

Generell bedeuteten die Feiertage immer besseres Essen und eine besondere Stimmung. Zum Pessach war mein Vater immer beim Sederabend der Gemeinde. Die 20 Männer, die sonst mit dem religiösen Leben sehr engagiert waren, machten immer mit, doch kaum jemand anders. Kinder waren nicht dabei.

Jedes Jahr stellte die jüdische Gemeinde in Sarajevo eine Laubhütte auf. Sie wurde in einer Nische gestellt, die so aussah, als ob sie extra dafür gebaut wurde. Die Gemeinde schmückte sie mit Obst und Zweigen nach den Vorschriften der Tradition. Ich glaube nicht, dass man eine zuhause hatte.

Schawuot feierten wir am wenigsten. Meine Eltern feierten jene Feiertage, die am meisten mit Kindern zu tun hatten. Vielleicht wurde sie deswegen nicht gefeiert, oder deshalb, weil es im Mai, am Ende der Ferienzeit, ist. Hanukkah, Purim und Tu biSchevat oder, wie wir es nannten, Hamishoshi [auf Ladino auch Frutas genannt], erfüllten diese Kinder-Kriterien und wurden freudig bei uns gefeiert. Zum Hanukkah stellte meine Mutter den Channukia mit Kerzen und Dochten auf. Wir Kinder zündeten die Kerzen an und erhielten Auszeichnungen, ausgehend davon, ob wir gute Schüler und Kinder gewesen waren. Danach sang mein Vater, doch weiß ich nicht mehr was. Jedes Jahr bekam wir einen neuen Dreidel [Kreisel] von der Gemeinde und von den Eltern.

Hanukkah wurde zum populären Feiertag sowohl in der jüdischen Gemeinde als auch in der breiteren Gemeinde Sarajevos, nachdem das Sarajevo-Theater in 1958 „Das Tagebuch von Anne Frank“ inszenierte. Ich glaube, da gab es eine Szene über Hanukkah, die das Interesse erweckte.

Purim feierten wir auch. Zu diesem Anlassen hatten wir ein großes Essen mit Familienmitgliedern, doch nachdem meine Onkel nach Israel gegangen war, war es viel kleiner. Meine Mutter kochte kleine pastelikus [kleine Fleischpastete], die, im Gegensatz zu normalen pasteles, in kleinen Einzelportionen geformt wurden, sowie borekitus [Pastete mit Blätterteig und div. Füllungen] und roskitus [Kuchen mit Walnüsse]. Jedes Jahr machte mein Vater kleine Stoffbeutel für mich und meinen Bruder, die wir ums Hals trugen und von den Erwachsenen mit Geld gefüllt wurden. Manchmal konnten wir sogar ein paar Tage nach Purim Geld von Verwandten sammeln.

Meine Eltern zeigten ihre Ausgelassenheit gegenüber den jüdischen Feierlichkeiten vor allem beim Hamishoshi. Trotz unserer beschiedenen finanziellen Lage, kauften meine Eltern immer diverse Früchte, egal wie exotisch oder teuer, die es in Sarajevo zu finden gab. Es gab normale Äpfel, Birnen und Trauben aber auch Orangen, damals eine Seltenheit, trockenes Johannisbrot und fistikas, Erdnüsse in Schalen, die meine Mutter zuhause röstete.

Nach dem Krieg hatten die Kinder meiner Generation keine Bar- oder Bat-Mitzwoth. Die Jugendorganisationen veranstalteten Aktivitäten oder Vorträge für Jom haAtzma’ut [israelischer Unabhängigkeitstag], aber ich kann mich daran nicht sehr gut erinnern. Jedes Jahr waren meine Eltern auf alle Fälle bei der Gedenkveranstaltungen in Djakovo und Nova Gradiska. Obwohl Juden aus ganz Jugoslawien dabei waren, war die jüdische Gemeinde Sarajevos der eigentliche Veranstalter. Die Frauen der Gemeinde Sarajevos machten Hunderte von lokumikus und enhaminados und brachten slivovica [Pflaumenschnaps] für alle.

Mein Mann Miroslav

Jedes Jahr waren wir mit meinen Eltern am Meer und sie schickten uns auch in jüdische Ferienlager. Als wir älter waren, schickten sie uns auf Ausflüge. Auf einem solchen Ausflug lernte ich meinen zukünftigen Mann, Miroslav Gasic, kennen. Die Exkursion wurde von der Ferijalina Savez Reiseorganisation organsiert und ging zum einem Jugendzeltplatz in der Nähe von Dubrovnik. Ein Jahr später traf ich Miroslav wieder auf einem Zeltplatz bei Makarska. Danach verloren wir den Kontakt bis mein Bruder anfing, an der Universität in Belgrad zu studieren. Da er und Miroslav in derselben Fakultät studieren, eröffnete ich den Kontakt und sagte meinem Bruder, wie er unserer Beziehung helfen konnte. Rafo entpuppte sich als guter Vermittler. Wir heirateten also in Sarajevo und verbrachte unsere Flitterwochen in Dubrovnik – diesmal im Hotel und keinen Zeltplatz.

Meine Mutter kam nie darüber hinweg, dass ich nach Belgrad zog. Nach einer Weile lernte sie, ihre Unzufriedenheit nicht immer so zeigen zu müssen, aber die Vorstellung akzeptiere sie nie. Unsere Nachbaren in Sarajevo sagten mir, dass sie nach meinen Besuchen lange weinte.

Miroslav absolvierte die Universität und arbeite bis zu seiner Pensionierung bei der Vinca Atominstitut in der Nähe von Belgrad. Ich arbeitete als Sekretärin bei der Föderation der jüdischen Gemeinden Jugoslawiens in Belgrad bis ich die Stelle als Anwältin beim Bildungsministerium bekam, wo ich heute noch arbeite. Wir haben einen Sohn, Dejan, der am 1. Januar 1973 geboren wurde und eine Tochter, Tamara, die am 23. September 1974 geboren worden ist.

Mein Vater Menahem (Miki) Montiljo „Hasid“ starb am 25. April 1981 im Krankenhaus in Sarajevo. Rabbi Cadik Danon, der dafür aus Belgrad kam, leitete seine Beerdigung. Nach der Beerdigung erlaubte uns unsere Mutter, dass wir ihr ein Grab neben ihm kaufen, da sie schon wusste, sie wird nicht lange ohne ihrem geliebten Miki leben können. Meine Mutter deckte die Spiegel in der Wohnung zu und organisierte einen Monat nach seinem Tod ein Limmud [Lernstunde] in der Gemeinde für meinen Vater. Meine Mutter Flora Montiljo starb im Oktober 1981 und wurde neben meinem Vater begraben.

Hier schließt sich der Kreis in mancher Hinsicht: die Familie meines Vaters, die Montiljos, waren als Montiljo Hahasid bekannt – ein Ausdruck des Respekts für besonders fromme sephardische Familien. Meine Eltern hielten ihr ganzes Leben daran fest und jetzt erwecken meine Kinder die Tradition wieder zum Leben. Meine Tochter Tamara wohnt in Israel und mein Sohn Dejan ist ein gläubiger Jude in Belgrad. Heute trägt Dejan den Namen seines Großvaters Menahem und führt die Tradition der Montiljo „Hasidim“ weiter.