Kurt Brodmann

Kurt Brodmann 
Wien 
Österreich 
Name des Interviewers: Tanja Eckstein 
Datum des Interviews: Oktober 2002 

Ich lerne Kurt Brodmann, einen großen, eleganten, gut aussehenden und charmanten Herrn bei ESRA 1 kennen.

ESRA veranstaltet regelmäßig Kaffeenachmittage, und ich finde dort viele Interviewpartner, die bereit sind, mir ihr Leben zu erzählen. Herr Brodmann, der im 3. Bezirk wohnt, hat vor kurzer Zeit seine Lebensgefährtin verloren.

Er ist, während er seine Lebensgeschichte erzählt, emotional sehr berührt und kämpft oft mit den Tränen.

Mehrere Male kommt er in meine Wohnung und nach den Interviews fahre ich ihn immer mit meinem alten Golf nach Hause. Die Autofahrten mit ihm sind lustig.

Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass er wenige Monate später, Anfang 2003, stirbt.

  • Meine Familiengeschichte

Über meinen Großvater väterlicherseits, Saul Brodmann, habe ich nur von meinem Vater gehört. Er ist 1825 in Galizien geboren und lebte in Wien, im 1. Bezirk, in der Judengasse 6. In diesem Haus ist auch mein Vater geboren. Mein Großvater war Spediteur.

Er besaß einen Wagen, der von Pferden gezogen wurde und mit dem er Pakete auf die Post brachte. Er war ein ganz einfacher Wiener und trug einen Schnurrbart. Man konnte ihn bestimmt nicht von einem Fiakerkutscher vom Stephansplatz [1. Bezirk] unterscheiden. Er starb 1903 in Wien.

Meine Großmutter, Betty Brodmann, war eine kleine zarte Frau. Ich habe sie noch gekannt. Sie wurde in der Nähe von Wiener Neustadt geboren und lebte, als ich sie kannte, im jüdischen Altersheim in Wien, in der Seegasse. Sie ist dort 1936 mit über 80 Jahren gestorben.

Mein Vater hieß Leopold Brodmann. Er wurde am 23. November 1892 in Wien geboren. Er hatte zwei Brüder; Heinrich und Max und eine Schwester Ernestine.

Max wurde kriegsversehrt im 1. Weltkrieg. Er war verschüttet worden und bekam vom Staat eine Rente, von der er gelebt hat. Er saß in einem Wagen [Anm.: Rollstuhl] und brachte mich jeden Tag in den Kindergarten. Er muss sehr beliebt gewesen sein, denn als er 1927, im Alter von nur 44 Jahren starb, kamen bestimmt einhundert Menschen zu seiner Beerdigung.

Heinrich wurde 1888 in Wien geboren, war sehr elegant und hat immer Geld für arme Leute gesammelt. Er überlebte den Krieg in der Schweiz in einem Internierungslager und ist nach dem Krieg nach Wien zurückgekommen, wo er 1963 starb.

Ernestine wurde 1885 geboren. Sie heiratete 1933, im 2. Bezirk, im Großen Tempel in der Tempelgasse Karl Blum. Sie hatten kein Kind und starben beide in Auschwitz [Anm: Ernestine Blum wurde am 20. Mai 1942 nach Maly Trostinec 2 deportiert und ermordet, Karl Blum wurde 1939 nach Nisko 3 deportiert Quelle: DÖW Datenbank].

Die Familie väterlicherseits war sehr arm. Als mein Vater meine Mutter kennen lernte, wurde seine finanzielle Situation aber besser. Gott sei Dank hatten wir die Omama, die uns immer Geld zugeschoben hat, damit wir über die Runden kamen.

Meine Großeltern mütterlicherseits hießen Benjamin und Etl Goldstaub. Sie waren relativ vermögende Leute, sehr orthodox, die aus Galizien, aus Lemberg, nach Wien gekommen waren. Mein Opapa hatte ein steifes Bein von einem Schuss, der ihn während seines Dienstes bei der k .u. k. Armee getroffen hatte. Er war eigentlich ein eigenartiger Mensch: er war klug, aber er hat sprach wenig. Ich weiß, er hatte einen Bruder, der in der polnischen Armee ein hoher General war und dem eine Hand fehlte.

Mein Großvater hatte ein Antiquitätengeschäft in der Landesgerichtsstraße 10. Er musste immer aufs Land fahren und in Kellern und auf Dachböden nach Antiquitäten suchen. Die Leute wussten oft nicht, was sie besitzen. Aber der Großpapa hat das gewusst, und er hat sehr, sehr schöne Sachen gekauft.

Die Großmama war im Geschäft und hat verkauft. Sie konnte kein richtiges Deutsch, sie hat jiddisch gesprochen. In das Geschäft kamen viele Stammkunden. Das waren meistens Baronessen und Gräfinnen, die was von Kunst und Antiquitäten verstanden. Sie haben bei den Großeltern teure Bilder und Gegenstände gekauft.

Meine Großeltern hatten vier Kinder: meine Tante Rosa wurde 1901 in Lemberg geboren. Sie lebte in Wien und heiratete einen Ungarn mit dem Namen Desider Harsanyi. Sie ist mit ihm nach Ungarn übersiedelt. Wir haben sie 1932 besucht, da war ich neun Jahre alt.

Gewohnt haben sie etwas außerhalb von Budapest. Ich erinnere mich, das war eine lustige Zeit dort. Rosa hatte einen Buben, den Artur. Er war Sänger im Tempel - eine Sensation war dieses Kind! Sie sind in Ungarn geblieben. Ich habe noch eine Karte mit einem Hilferuf von ihnen bekommen, als ich bereits in Palästina im Kibbutz 4 war. Aber ich konnte ihnen nicht helfen. Das war das allerletzte Lebenszeichen von ihnen, alle sind ermordet worden.

Tante Anna, Anni wurde sie genannt, wurde 1904 in Lemberg geboren. Sie war hübsch, aber kompliziert. Sie ist mit meiner Mutti in eine Klasse gegangen, obwohl sie zwei Jahre jünger als meine Mutti war. Man hat sie in die letzte Reihe gesetzt, weil sie ein braves Kind war. Wenn man sie etwas gefragt hat, dann hat sie nicht geantwortet.

Die Mutti hat sich ein bisschen um sie gekümmert. Die Anni hat in der Schule nie etwas gesagt, hat aber trotzdem immer ein Zeugnis bekommen. Wenn die Omama in die Schule gegangen, ist um sich zu erkundigen, wie ihre Tochter lernt, hat die Lehrerin gesagt: 'Was wollen Sie denn von mir, die Anni redet doch denn ganzen Tag nichts.' Da hat die Omama zur Lehrerin gesagt: 'Lassen Sie sie dort sitzen, soll eine Ruh sein.'

Tante Anni hat dann einen Josef Lauber geheiratet. Das war eine sehr unglückliche Ehe. Sie wurden 1924 geschieden. Sie hat dann noch einmal geheiratet. Ihr zweiter Ehemann hieß Erwin Neumann, der war ein Spieler. Sie hatte Pech mit den Männern. Anni hatte eine Tochter, die Liane. Sie ist eine wunderbare Tänzerin geworden.

Aber sie hatte auch Pech mit den Männern. Sie ließ sich scheiden von ihrem ersten Mann, heiratete einen zweiten Mann, der an einer Nierensache starb. An den kann mich noch sehr gut erinnern. Das war ein wunderbarer Mann. Zuerst ist Tante Anni mit meinem Vater nach Shanghai emigriert, und später ist sie zu ihrer Tochter nach Amerika gegangen und dort gestorben.

Artur ist 1908 in Wien geboren und 1926 an einer Lungenkrankheit gestorben. Als Baby ist er vom Wickeltisch herunter gefallen. Die Großeltern hatte eine Kinderschwester, und sie hat sich nicht getraut, ihnen das zu sagen. Als er herunterfiel, brach er sich das Rückgrat.

Das Rückrat drückte ihm dann auf die Lunge, das wurde aber erst später festgestellt. Er hat auch einen Buckel gehabt. Artur war ein sehr gescheiter Bursche, ein Rechengenie. Ich kann mich erinnern: bevor er gestorben ist, waren wir im Allgemeinen Krankenhaus bei ihm zu Besuch, und die Mutti hat leise zu mir gesagt: 'Kurti, du weißt doch, wo die alte Frau mit den Blumen steht.

Geh und kauf dem Turli ein paar Blumen, weil er nicht mehr lange leben wird.' Ich bin hinunter gegangen, habe die Blumen gekauft, und wie ich wieder herauf gekommen bin und ihm die Blumen geben wollte, sagte er zu mir: 'Kurti, bitte komm mir nicht zu nahe, ich bin so krank.' Und da habe ich die Blumen auf den Boden geschmissen.

Meine Mutter, Franziska Rachela Brodmann, geborene Goldstaub, wurde am 28. August 1902 in Lemberg geboren. Einige Jahre später sind meine Großeltern nach Wien übersiedelt.

  • Meine Eltern

Mein Vater war Schauspieler, ein großer, sehr bekannter Schauspieler. Er war wirklich etwas ganz Außergewöhnliches. Auf der Bühne hat er gestrahlt! Er war mit Leib und Seele Schauspieler. Meine Eltern haben sich in Bad Hall kennen gelernt.

Mein Vater hat auf der Bühne gespielt, und die Mutti ist in der ersten Reihe gesessen. Er hat nur einen Blick auf sie geworfen und hat sich sofort in sie verliebt. Meine Mutti hat sich auch sofort in ihn verliebt, er war ja ein wunderbarer Mann.

Aber es gab Hindernisse, weil er kein frommer Mann war, denn die Eltern meiner Mutti waren doch sehr fromm. Mein Großvater hat meinen Vater einen Possenreißer genannt, also einen Narren auf der Bühne. 'Du passt nicht zu uns, du bist kein frommer Mann.

Wenn du meine Tochter haben möchtest, musst du diesen Beruf aufgeben. So etwas gibt es bei uns Orthodoxen nicht.' Und da mein Vater meine Mutter doch sehr geliebt hat, hat er gesagt: 'Ich werde das alles aufgeben, ich mache das für meine große Liebe.'

Es gab dann aber auch wirklich große Turbulenzen in der Ehe meiner Eltern, die habe ich alle mitbekommen. Viele Streitereien - mein Vater hat andere Frauen gehabt - meine Mutter hat oft geweint. Das war keine leichte Sache damals. Meine Mutter hatte ein schweres Leben, und sie war doch eine so schöne und gescheite Frau.

Meine Kindheit

Ich wurde am 23. März 1923 in Wien geboren, mein Bruder Harry ist fünf Jahre jünger als ich. Er wurde am 28. August 1928 in Wien geboren.

Wenn der Hitler nicht gekommen wäre, dann hätte ich studiert und wäre ein großer Sänger geworden, obwohl ich nie Gesangsunterricht hatte. Die Musik ist ein Teil von mir, ich lebe für die Musik. Das ist angeboren, das habe ich vom Vater. Ich habe schöner gesungen als mein Vater, aber er war der bessere Schauspieler. Ich habe nie versucht, Schauspieler zu werden, aber bestimmt wäre ich auch gut auf der Bühne gewesen. Dazu ist es nicht gekommen.

Meine Großeltern haben im 8. Bezirk, in der Wickenburggasse 16, gewohnt. Da bin ich auch auf die Welt gekommen. Als wir unsere eigene Wohnung hatten, waren wir oft bei den Großeltern zu Besuch, das war immer sehr schön. Jedes Mal gab es einen weiß gedeckten Tisch, das war sehr festlich. Pessach 5 haben wir auch bei ihnen gefeiert. Mein Vater hatte keine Ahnung von Frömmigkeit. Aber er war ein guter Jude: wehe, wenn jemand etwas Schlechtes über Juden gesagt hat, dann ist er wild geworden.

Meine erste Schule war im 2. Bezirk, am Czerninplatz, denn wir haben zu dieser Zeit in der Stuwerstraße gewohnt. Dann sind wir von der Stuwerstraße nach Kaisermühlen gezogen. Das ist der 22. Bezirk. Dort ging ich in die Volks- und Hauptschule bis Hitler gekommen ist. Da war ich in der vierten Hauptschulklasse.

Meine Schulzeit

Ich war das einzige jüdische Kind in der Klasse, da habe ich schon sehr gespürt: die Leute mögen uns Juden nicht. Aber man hat das damals nicht so ernst genommen. Das war selbstverständlich, das musste so sein. Ich habe mich auch gar nicht geschämt.

Die Kinder haben mich beschimpft, ich habe die beschimpft. Wir haben uns auch geschlagen, so wie das eben unter Buben üblich ist. Wir waren ja damals nur Buben in der Schule. Es wäre unvorstellbar gewesen, wenn da auch Mädels gewesen wären. Freunde hatte ich aber auch in der Schule.

Unser Klassenvorstand war ein Nazi - Huber hat er geheißen. Aber der hatte mich, trotzdem ich ein jüdisches Kind war, sehr gern, weil ich wunderbar singen konnte. Ich bin auch heute noch Sänger. Ich habe aber schon in der Schule gesungen, und alle haben zugehört.

Der Lehrer hat einmal zu den Kindern gesagt: 'Jetzt haben wir eine Gesangsstunde. Jedes Kind muss ein Lied singen.' Da haben die Kinder gesungen, und dann bin ich drangekommen. An das Lied, das ich gesungen habe, kann ich mich noch erinnern: 'Ich habe mein Haus verloren, mein teures, teures Haus.

Es war so treu im Leben, es kann kein treueres geben.' Der Lehrer schaute mich an und sagte: 'Kurt, das ist doch nicht möglich, du bist ja ein Künstler!' Daraufhin sagte ich: 'Na ja, das ist halt ein schönes Lied.' 'Warte, wir gehen jetzt zu meiner Frau, die ist oben im zweiten Stock. Du musst auch ihr etwas vorsingen.' Also hat er mich bei der Hand genommen, und wir sind zu seiner Frau hinaufgegangen, und ich habe gesungen. 'Das ist nicht möglich', hat sie gesagt.

Danach musste ich ständig in der Schule singen. Den Kindern hat das aber auch sehr gefallen. Der Nazi-Lehrer, mein Musikprofessor, hat sich mit mir immer gern über Musik unterhalten, und ich konnte ihm auch antworten. Ich habe ihn gern gehabt, obwohl er ein Antisemit war.

Die anderen Kinder waren nicht so gebildet wie ich. Ich habe auch schön gesprochen, weil wir zu Hause ja nur ein gepflegtes Deutsch gesprochen haben. Einmal habe ich in der Klasse jüdische Lieder vorgesungen. Ich hatte die Noten mitgebracht und zum Lehrer gesagt: 'Das ist so ein schönes Lied, das können wir doch lernen.' Da hat der Lehrer gesagt: 'Das können wir nicht lernen, aber du hast das schön gesungen.'

Der Huber war aber auch Rechenlehrer. Er hat mir immer Fragen gestellt, von denen er wusste, dass ich sie nicht beantworten kann, denn ich war ein schlechter Rechner. Und außerdem hat er mich mit den Noten benachteiligt. Aber er hatte mich halt wegen der Musik sehr gern. Wenn wir auf einen Ausflug fuhren, ist er immer neben mir gegangen und hat sich nur mit mir unterhalten. Es war so eine Art Hassliebe. Er hat gefühlt: dieser jüdische Bub ist anders als die restliche Rasselbande.

Mein Religionsunterricht war in Kaisermühlen in einer Mädchenschule. Da wurden alle jüdischen Kinder der umliegenden Schulen jeden Montag zusammen gesammelt. Dieser Unterricht war eine Farce. Wir hatten einen jungen Religionslehrer, Herrn Victor Rosenfeld.

Er war ein sehr lieber Mann, aber wir Kinder haben den Unterricht nicht ernst genommen. Wir haben zwar das 'Schmah Israel' ['Höre Israel', das wichtigste Gebet, das morgens und abends gesprochen wird] auswendig gelernt, das haben wir immer gesagt, aber sonst konnten wir nicht viel. Der Herr Rosenfeld hat uns nichts lehren können, weil wir so einen Lärm gemacht haben. Es war ein schreckliches Durcheinander, aber das war eben so.

Meine Eltern hatten jüdische und nicht jüdische Freunde. Es war eine Mischkulanz, denn viele jüdische Männer haben Christinnen geheiratet; man hat sich gar nichts dabei gedacht. Trotz der Schwierigkeiten, die meine Eltern miteinander hatten, war meine Kindheit schön. Wir waren nicht reich, denn mein Vater hat das Geld als Vertreter in Schuhen verdient. Er war bei jüdischen Fabrikanten angestellt. Er war sehr fleißig, hat schöne Aufträge gebracht, aber die Auslieferungen, wie er mir erzählte, haben ihm oft zwei linke Schuhe oder zwei rechte Schuhe geliefert. Da hat er dann keine Provision gekriegt, weil die Geschäfte die Ware nicht annehmen konnten. Also, wir haben es auch finanziell schwer gehabt. Gott sei Dank hatten wir die Omama!

Als Kind war ich im Bilu, einer zionistische Bewegung. Ich habe viel gewusst über Palästina und Eretz Israel, und ich konnte viele Lieder in hebräischer Sprache singen.

Meine Eltern sind im Sommer manchmal auf einen ganz einfachen Bauernhof mit uns Kindern auf Urlaub gefahren. Das hat die Omama natürlich bezahlt. Einmal waren wir auch in Gars am Kamp, dort habe ich schwimmen gelernt. Da war ein Staudamm, der war so glitschig von dem ewigen Wasser, das dort immer fließt.

Ich bin ausgerutscht und reingefallen. Und ich dachte mir: 'Ah, ich kann schwimmen!' Ich rannte zu meinem Vater und sagte: 'Weißt du was? Ich kann schon schwimmen!' 'Was heißt, du kannst schwimmen?' Da habe ich ihn bei der Hand genommen und habe gesagt: 'Ich zeig dir, wie ich schwimmen kann.' Und ich bin vor ihm wieder dort hineingesprungen.

Mein Vater war ganz erschrocken, aber ich habe gesagt: 'Nein, nein, ich kann schwimmen.' Dann sind wir zu meiner Mutter gelaufen, und mein Vater hat gesagt: 'Stell dir vor, der Kurt kann schwimmen, was sagst du dazu?'

Mein Vater war sehr lieb. Er hatte ein schweres Leben, weil er die Schauspielerei aufgeben musste. Das hat ihn Herz und Seele gekostet, das hat er sehr schwer verkraftet. Manchmal hat er etwas organisiert in Kaisermühlen für die Arbeiter dort mit ihren Kindern.

Er war Sozialdemokrat und hat einige Male für die Partei auf der Bühne die Operette 'Der fidele Bauer' gespielt. Da hat man einen Buben gebraucht, und er hat gesagt: 'Kurti, das ist deine Rolle, das musst du auswendig lernen.' Ich habe dann mit ihm zusammen gespielt: 'Heinerle, Heinerle, ich hab' kein Geld...' habe ich gesungen.

Da war ich neun Jahre alt. Das hat mir großen Spaß gemacht. Auch meine Mutter war im Publikum. Aber die Großeltern kamen nicht. Fromme Leute gehen weder ins Kino noch ins Theater; die leben nur für die Religion.

Hausmädchen haben wir auch gehabt. Wir hatten eine Mizzi, dann eine Leopoldine. Die Mädchen waren damals so dankbar: sie haben bei uns wohnen können, bei uns essen können, es ging ihnen gut. Das hat alles die Omama finanziert, die hat immer geholfen. Die Leopoldine hat uns sehr geliebt, und wir haben sie so geliebt wie die eigene Mutter. Sie war so süß und lieb und gut zu uns Kindern.

Meine Bar Mitzwa 6 habe ich nicht gefeiert. Ich kann mich erinnern, mein Großvater war sehr unglücklich, dass man mir das nicht ermöglicht hat. Eine Bar Mitzwa ist für einen jüdischen Buben das Wichtigste. Aber es war ganz einfach nicht möglich. Es war 1934 eine derartig gefährliche Zeit damals für meinen Vater als Sozialdemokraten, da hatten sie nicht den Kopf dafür 7. Aber ich habe gesehen, wie mein Großvater deswegen geweint hat.

Im 1938er-Jahr hat die Mutti schon geahnt, was da kommt. Als ich die Schule verlassen musste war ich noch kurze Zeit Lehrling in einer Lederfirma. Dort hat man mich aber dann auch aus rassischen Gründen hinausgeschmissen. Ich habe noch ein Zeugnis bekommen: Wir waren mit ihm sehr zufrieden, aber wegen der momentanen Verwirrungen..., oder irgendwie so haben sie geschrieben,...mussten wir Kurt Brodmann entlassen.

  • Die Flucht

Kurz nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich hat meine Mutti meinen Bruder und mich in eine Institution für jüdische Kinder gebracht, um unser Leben zu retten. Mein Bruder kam mit einem Kindertransport 8 nach England, er war neun Jahre alt, und ich kam auf einen Transport nach Palästina. Mein Bruder hatte Glück und ist zu einem jüdischen Lord nach England gekommen.

Es ist ihm dort eigentlich sehr gut gegangen. Er hat viel gelernt und ist eine große Persönlichkeit, ein Atomwissenschafter, geworden. Er hat eine Engländerin geheiratet und hat drei Buben. Durch eine Erfindung ist er bekannt geworden. Die Zeitungen haben über ihn geschrieben, da sieht man wie er arbeitet mit diesen Atomhandschuhen. 

Er liest Bücher nur mit Formeln und mit Zeichen. Er hat eine Fabrik gegründet. Er hat auch Betten für Krankenhäuser entwickelt, an die man Röntgengeräte oder Fernsehapparate anschließen kann, und der Kranke kann alles vom Bett aus bedienen. Ich war in dieser Fabrik, das war sehr interessant. Er wohnt in einem Vorort von Birmingham, dort hat er eine herrliche Villa.

Einmal habe ich zu ihm gesagt: 'Harry, ich bin schon so alt, kann ich nicht zu dir kommen und bei dir wohnen?' Da hat er gesagt: 'Selbstverständlich sofort, du kriegst ein Zimmer in unserem Haus.' Ich hatte doch nur einen Witz gemacht. Aber es war schön, das zu hören.

Ich bin mit dem letzten legalen Schiff nach Palästina gefahren. Wir sind angekommen in einer anderen Welt. Alles war anders! Wir wurden von einem jungen Mann, Walter hieß er, abgeholt und zuerst in einen Kibbutz gebracht. Danach führte er uns in Haifa herum.

Ich sah einen Polizisten auf einem Pferd und habe gesagt? 'Sag einmal, das ist auch ein Jud?' Dann haben wir Arbeiter gesehen, und ich habe gesagt: 'Das sind alles jüdische Menschen?' 'Ja, natürlich! Warum wunderst du dich so?' fragte er mich. Ich hatte so etwas noch nie gesehen.

Mein Onkel Emanuel, der Bruder meiner Mutter, ist mit der Omama nach Holland geflüchtet. Seine Frau, eine Holländerin, hatte in Amsterdam ein Textilgeschäft. Die drei haben zusammen gelebt und haben zusammen gearbeitet in dem Geschäft.

Aber als die Nazis nach Holland kamen, wurden sie verschleppt und getötet [Anm. Ettel Stark recte Goldstaub Seif, geb. 10.5.1872 in Lemberg, aus Holland deportiert nach Sobibor, dort ermordet am 16.03.1943, Emanuel Stark, geb. 28.04.1906 in Lemberg, aus Holland deportiert, umgekommen am 21.01.1945 in Mitteleuropa; Quelle: DÖW-Datenbank und Center for Research on Dutch Jewry]. Ich besitze noch einen ganzen Stoß von Briefen vom Emanuel, es ist tragisch!

Mein Großvater hatte einen künstlichen Darmausgang, er war ein schwerkranker Mann. Er wurde 1938 aus seiner Wohnung geworfen, durfte in kein Hotel, durfte auf keiner Bank sitzen, er konnte gar nichts mehr machen als Jude. Er hat gestunken, weil er sich nicht waschen konnte, und meine Mutter hatte die Ausreise nach Shanghai.

Sie hat gesagt: 'Ich muss verzichten, ich lasse meinen Vater nicht allein hier in diesem Zustand.' Meine Mutter gab ihrer Schwester, der Tante Anni ihre Fahrkarte. Mein Vater und Tante Anni sind zusammen nach Shanghai geflüchtet. Meine Mutter hat dann Unmenschliches geleistet, bis der Großpapa im Januar 1939 gestorben ist.

Dann hat sie ihn noch begraben, hier am Zentralfriedhof am 4. Tor. Er liegt mit meinem Onkel Artur, seinem Sohn, zusammen in einem Grab. Sie hatte auf die Flucht nach Shanghai verzichtet und nun kam sie nicht mehr weg. Sie ist jeden Tag, sie hat ausgeschaut wie eine Christin, auf die Kultusgemeinde gegangen und hat gesagt: 'Mein Mann ist in Shanghai, ich muss zu ihm.'

Eines Tages sagte der Beamte der Kultusgemeinde: 'Frau Brodmann, ich kann Ihnen mitteilen, dass in Triest eine Karte nach Shanghai für sie zurückgelegt wurde, Sie können fahren.' So konnte sich meine Mutter auch noch retten.

Es sind Tausende Juden nach Shanghai geflohen: Österreicher, Deutsche, Russen und Polen, jeder, der noch davon rennen konnte - um zu überleben. Der Kaiser hat die Juden geschützt: 'Das sind meine Gäste' hat er gesagt.

Mein Vater hat in Shanghai Theater für Chinesen und Japaner gespielt. Er hat Wiener Operetten in Japanisch auswendig gelernt und zusammen mit Schauspielern aus Deutschland gespielt. Sie haben große Erfolge damit gefeiert.

Die Juden haben in Shanghai eine richtige kleine Stadt aufgebaut. Es gab Modegeschäfte, Fleischfabriken, Restaurants und Wiener Cafes. Alles gab es dort wie in Wien oder in Berlin. Meine Mutter hat ein Kaffeehaus eröffnet, das hieß 'Wiener Stüberl'. Es gab in dem Kaffeehaus von ihr gebackenen Apfelstrudel, Topfenstrudel und noch andere Mehlspeisen. Mein Vater ist aber durch das Klima dort krank geworden.

  • Im Kibbutz

Im Kibbutz mussten wir einen Aufsatz schreiben über den ersten Eindruck, den wir gewonnen hatten, als wir nach Israel kamen. Ich hatte einen sehr schönen Aufsatz geschrieben, der wurde sogar ausgestellt.

Nach einiger Zeit kam ich in den Kibbutz Yfat bei Nahalal. Den halben Tag lernten wir hebräisch und den anderen halben Tag arbeiteten wir am Feld oder bei den Truthähnen. Ich hatte noch nie in der Landwirtschaft gearbeitet, also war das nicht so einfach. Das Haus in dem wir wohnten, war das Jugendhaus. Beit Ha Noar heißt das auf Hebräisch. Beit heißt Haus und Noar heißt Jugend. Aber mir hat das nicht gepasst, ich wollte nicht auf dem Feld arbeiten.

Der Madrich, der Leiter, hat jeden gefragt: 'Na, was willst du denn werden, was willst du denn lernen?' Da habe ich geantwortet: 'Ich will gern ein Handwerk lernen.' Das hatte mir nämlich mein Opapa immer wieder gesagt: 'Kurti, egal was kommt, ein Handwerk musst du lernen.' Und da habe ich gesagt: 'Ich möchte so gerne ein Tischler werden, weil ich ein Bastler bin.'

In der Schule hatte ich sehr viele Sachen gebastelt und ich war sehr geschickt. 'Na gut, dann gehen wir jetzt in die Tischlerei und werden fragen, ob man dich dort brauchen kann.' Er ging mit mir in die Tischlerei: 'Leider, du bist gekimmen zu spät', die haben dort ja alle jiddisch geredet, 'es ist schon gekimmen der Jakov, und der ist geblieben bei mir.' Heute spreche ich jiddisch perfekt. Ich kann lesen und schreiben.

Die Leute in diesem Kibbutz sprachen entweder jiddisch oder hebräisch. Wir Kinder konnten nicht hebräisch, aber wir konnten deutsch sprechen, das ist dem jiddischem sehr ähnlich. Und dann sagte der Tischler zu mir: 'Aber du weißt, beim David Goldwasser in der Schisterei [jidd. Schuhmacher] ist ein Platz.

Willst du werden ein Schister [jidd. Schuster]?' Und ich habe mir gedacht: Ich soll Schuster werden? Aber ich hatte sogar ein Verhältnis zu Schuhen, weil mein Vater doch Vertreter für Schuhe war. Er führte mich zum Schuster, der schaute mich an und sagte, ich sehe ihn jetzt noch vor mir: 'Du willst werden a Schister? Mit die Händ [jidd. Mit den Händen]?' Und ich sagte ihm: 'David, ich werde dir sagen: ich will nicht aufs Feld, ich bin für so was nicht geeignet.

Ich möchte gerne ein Schuster werden.' Sagte er: 'Gut, morgen um acht Uhr am Zeiger [Zeiger (jidd): Uhr] kimm zu mir, du kriegst ein Fartach [jidd. Schürze], du hast deinen ersten Arbeitstag, und du wirst werden ein Schister.'

Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, und ich war wirklich um acht Uhr dort. Er hat mir einen Schemel gegeben und meine erste Arbeit war, für Babyschuhe mit der Zange die Absätze zu reißen. Ich habe gesagt: 'Ich will einen Schuh machen.' Und die Antwort, die ich bekommen habe, war: 'So schnell? Hab Geduld, du wirst schon kriegen die Arbeit.'

Na, und wirklich, ich habe dort zwei Jahre gearbeitet, und ich war dann perfekt. Ich habe dort herrliche Schuhe gemacht, auch Oberteile. Ich habe das alles gelernt. Und ich habe das auch verwendet für die Zukunft. Ich hatte eine wunderschöne Werkstatt in Tel Aviv und in der Werkstatt sogar elf Leute beschäftigt.

Dann lernte ich noch Orthopädie dazu. Ich habe viel verdient. Als ich vom Kibbutz weg wollte, habe ich doch das Geld gebraucht. Ich war so gut, dass man mich in andere Kibbutzim schickte, um den Leuten das Schuhe machen beizubringen. Ich habe damals schon fünf englische Pfund im Monat verdient. Essen war frei, Wohnung war frei, und ich habe dort sehr viel gespart für die Stadt. Ich wollte mir damit in der Stadt etwas aufbauen.

Von 1942 bis 1948 war ich bei der Haganah 9. Meine ganze Truppe ist beim Kampf gegen die Ägypter gefallen, einer ist übrig geblieben, der hatte einen Streifschuss im Kiefer. Ich hatte in der Nacht davor eine Nierenkolik, und die hat mir mein Leben gerettet. Ich hatte in meinem Leben nie etwas mit der Niere zu tun, und dann gerade in dieser Nacht, das ist schon allerhand.

  • Paula 

Vor meiner Kolik beim Militär hatte ich die Paula kennen gelernt. Paula war wunderschön, und sie hat mir sofort gefallen. Sie hat bei der englischen Luftwaffe im Büro gearbeitet. Ich habe sie zufällig gesehen, aber dann wieder aus den Augen verloren. Während eines Urlaubs traf ich sie in einem alten ehemaligen arabischen Kino wieder.

Inzwischen war das Kino ein großes Tanzlokal, die jüdischen Burschen und Mädels sind dort zum Tanzen hingegangen. Und da sah ich sie auf der Tanzfläche mit einem großen Luftwaffenoffizier, der sie in den Armen hielt. Sie sah mich und ich habe ihr auch sofort gefallen, das konnte ich sehen. Wir haben uns aber nicht unterhalten können, weil sie weder deutsch noch hebräisch gesprochen hat. Sie war eine Neueinwanderin aus Rumänien, aus Bukarest.

Paula war Jahrgang 1928. Im Alter von dreizehn Jahren wurde sie in ein KZ deportiert, und 1946 wanderte sie mit ihren Eltern nach Palästina aus. Irgendwie gelang es mir, sie zu fragen, wo sie wohnt, und sie gab mir ihre Adresse. Am nächsten Tag war ich gleich bei ihr zu Hause.

An der Tür war ein Löwenkopf zum klopfen. Ihre Mutter öffnete die Tür. Ich ging hinein, und da saß sie beim Tisch. Sie hat mich sofort wieder erkannt. Die Mutter hat dann übersetzt. Paula war so schön wie ein Traum! Ich war total narrisch nach der Frau. Aber mein Urlaub war schon abgelaufen.

Am nächsten Tag konnte ich sie nicht mehr besuchen, weil ich zum Militär zurück musste. Dann musste ich ins Feld, cirka 40 Kilometer von Jaffa. Ich war unruhig, weil ich eifersüchtig war. Ich dachte, wenn ich nicht komme, schnappt mir jemand meine große Liebe weg.

Unser Camp war von der Hauptchaussee 15 Kilometer entfernt. Wenn ich hätte türmen wollen, hätte ich 15 Kilometer bis zur Straße gehen müssen. Ich habe beschlossen, ich werde es wagen. Ich sprang also über den Stacheldraht und bin gelaufen. Mir war alles egal, ich musste zu meiner Paula.

Die Militärpolizei hat mich dann von Paula nach einiger Zeit abgeholt. Das Interessante war, dass die 15 Kilometer vermint waren. 'Gut bitteschön, die Liebe, aber das ist alles vermint, wie bist du da durchgekommen? Wie bist du da lebend durchgekommen' fragte mich der Offizier.

Ich war wieder einmal mit dem Leben davongekommen. Ich hätte die Hände oder Füße verlieren können, ich hatte einen Schutzengel. Aber es hat sich gelohnt. Ich möchte die sieben Jahre, die ich mit dieser Frau zusammen war, nicht missen wollen.

Wir haben dann geheiratet und uns gemeinsam unsere Zukunft aufgebaut. Wir haben für Krankenschwestern in Spitälern hohe weiße Schuhe nach Maß angefertigt, das brachte viel Geld. Ich hatte zwei Fachleute angestellt, die das konnten. Paula und ich waren auf orthopädische Kindersandalen spezialisiert. Die gingen weg wie die warmen Semmeln.

Unser erstes Geschäft in Tel Aviv war klein. Dann sind wir in die Nähe des Yarkon [Anm.: Yarkon Fluß] übersiedelt. Alle Maschinen haben wir in das wunderschöne große Lokal gebracht. Ich habe mich sehr gut gefühlt.

Leider konnte meine Frau Paula keine Kinder bekommen. Das war ein großes Problem, mehr für sie als für mich. Sie wurde dadurch so hysterisch, dass ein Leben mit ihr einfach unmöglich wurde. Wir waren drei Mal geschieden und wir sind drei Mal wieder zusammen gekommen. Wir konnten ohne einander nicht leben.

Da habe ich mir still und leise meinen Pass beschafft, das konnte ich an einem Tag erledigen und bin vor meiner Frau geflohen. Um vier Uhr in der Früh ist ein Auto nach Haifa gefahren, ein Gemüsewagen, und ich bin zum Chauffeur gegangen und habe ihm gesagt: 'Entschuldige, nimm mich nach Haifa mit, ich fahre weg.' Sagt der: 'Aber du hast doch eine Frau.'

Sie hätte mich ja umgebracht, wenn sie gewusst hätte, dass ich weg fahre. Ich habe sie sehr geliebt, aber ich musste weg. Die einzige Möglichkeit mein Leben zu retten, war nach Wien zurückzugehen. Mein ganzes Vermögen, meine Werkstatt, mit den Leisten, mit den Maschinen, mit allem habe ich dort gelassen.


 

  • Zurück nach Wien

Zehn Jahre hatte ich nichts von meinen Eltern gehört. Ich habe gewusst, sie sind in Shanghai, aber ich hatte keinen Brief bekommen. Das war nicht möglich, es war ja Krieg. Meine Eltern waren 1947 aus Shanghai nach Wien zurückgekommen, und ich fuhr 1954 zu meinen Eltern nach Wien.

Sie hatten ein bisschen Geld, mein Vater, der noch relativ jung war, arbeitete wieder als Vertreter in der Textilbranche. Dadurch kam ich auch zur Textilbranche. Ich wollte eigentlich als Schuster arbeiten, aber mein Vater sagte: 'Kurti, hier in Wien kannst du das nicht machen, ein Jude kann in Wien kein Schuster sein.' 'Gut, aber was soll ich machen? Irgendetwas muss ich doch machen', antwortete ich.

Mein Vater schlug mir vor, auch ein Vertreter zu werden, wie er. "Na gut Papa, ich arbeite zwei Tage mit dir zusammen. Ich trage dir die Koffer, ich höre mir deine Gespräche an, und wenn es mir irgendwie zusagt, werde ich es einmal versuchen.' Gesagt, getan. Ich bin mit ihm herumgerannt.

Es war Juli, es war heiß, und ich trug einen Anzug und ein Hemd mit Krawatte, denn die Garderobe ist das Allerwichtigste in dem Beruf. Mein Vater hat verkauft noch und noch. Es war damals ja nichts am Markt, damals hat man alles gebraucht. Am Abend sind wir nach Hause gekommen mit den Koffern, und er fragte mich: 'Na Kurti, wie hat dir das gefallen?' Ich sagte ihm, dass ich es versuchen werde.

Am nächsten Tag nahm ich die schweren Koffer mit Pullovern und Westen und rannte den ganzen Tag herum, ohne ein Stück zu verkaufen. Es war wieder ein Zufall! Es war bereits halb sechs Uhr abends, da kam ich in ein Geschäft in der Laxenburgerstraße.

Mit letzter Kraft kam ich mit den zwei Koffern durch die Tür. Ich habe nicht gedacht, dass ich da noch etwas verkaufe. Im Geschäft waren eine schöne Frau und ein Mann. Sie sah sich meine Ware an und gab mir einen Auftrag über cirka 8000 Schilling, das war damals viel Geld! Ich war glücklich und wurde DER Vertreter!

Ich habe mir einen großartigen Kundenstock aufgebaut. Ich habe viel verdient, was heute nicht mehr möglich wäre. Gerade jetzt, da dieses Geschäft nicht mehr geht, habe ich aufgehört. Ich habe eine schöne Pension, ich kann leben von meiner Pension, und ich kann noch immer etwas nebenher verdienen. Außerdem singe ich.

  • Meine neue Familie

Ich habe noch einmal geheiratet. Meine Frau Erika ist eine ungarische Jüdin, aber es war keine gute Ehe. Sie war genau das Gegenteil von Paula. Wir waren 31 Jahre verheiratet. Ich habe sie geheiratet, weil ich allein war. Aber ich habe mit ihr zwei wunderbare Kinder, Gabriele und Alfred.

Alfred ist 1956 geboren und lebt seit 12 Jahren in New York. Er hat an der Kunstakademie studiert. Er ist ein Künstler, ein Maler, ein Zeichner, ein Karikaturist. Er hat dort geheiratet, hat einen süßen Buben, der heißt Leo, wie mein Vater. Ein Rothaariger ist er, so wie mein Opapa, der war auch rothaarig. Meine Tochter hat eine wunderbare Arbeit bei einer Zeitung in Wien. Sie hat einen Sohn, den David, der ist erst elf Jahre alt.

Dreimal war ich in der Zwischenzeit wieder in Israel auf Besuch. Einmal mit der ganzen Familie: mit meinen Eltern, meinem Bruder und seiner Frau und Verwandten. Ich habe jedes Mal Paula gesucht, aber ich habe sie nicht gefunden. Aber sogar wenn ich sie gesehen hätte, ich wäre nicht auf sie zugegangen.

Ich fühle mich in Israel gleich zu Hause. Meine Chawerim [hebr.: Freunde] haben einen Kibbutz gegründet, der liegt am Hula See. Es gab zwei Seen, den Kineret und den Hula. Den Hula musste man wegen der Malaria trocken legen. Darüber weinen sie bis heute, weil es viele Fische im See gab.

Aber die Leute wurden schwer krank, wegen der Malaria. Meine Freunde sind auch alt geworden. Nicht zu glauben, die sind alle 80, aber die arbeiten noch fest. Die Frauen, die so hübsch waren, haben sich durch die schwere Arbeit und durch das Klima sehr verändert. Das frisst die Menschen auf. Es gibt ein wunderbares Gedicht in der Torah, da wird genau das gesagt: Dieses Land frisst seine Menschen auf.

  • Mein Leben heutzutage

Ich kenne die Österreicher, ich bin hier geboren. Wien ist meine Heimat. Es gibt viele Debatten, ich habe ein ganz gutes Mundwerk, und ich überzeuge die Leute, wenn wir zusammen sitzen. Ich schau ich nicht aus wie ein Jude, vielleicht ist das auch ein großer Vorteil in der Arbeit gewesen. Ich bin in die kleinsten Dörfer in der Provinz gefahren, habe in Bauernhöfen geschlafen und dort mit den Bauern gegessen.

Da hört man Verschiedenes. Ich habe nie direkt gesagt, dass ich Jude bin. Aber ich habe die Israelis immer in Schutz genommen. Darum wurde ich oft gefragt: 'Bist du vielleicht selber ein Jude?' Die jungen Israelis - das ist eine andere Welt. Auf diese Kinder kann man stolz sein. Das sind unglaubliche Mädeln und Buben, die für das Land leben und kämpfen. So habe ich auch geredet.

Ich habe auch CDs gemacht und verkauft. In Wien, im 19. Bezirk, in einem kleinen Theater habe ich gesungen, da können ungefähr einhundert Leute sitzen. Ich singe klassische Musik: Schubert-Lieder zum Beispiel. Auch im jüdischen Altersheim singe ich, da habe ich einen guten Freund, der mich begleitet.

Dadurch, dass ich im jüdischen Altersheim zu Mittag esse, bin ich viel mit jüdischen Leuten zusammen. Die gehen in kein Kino, die gehen in kein Theater, die leben nur für das Geschäft und für ihre Religion. Jetzt hat man dort ein Kino installiert, da kommen sie auch nicht hin.

Die lesen auch keine Zeitung, das interessiert sie nicht. Aber das wiederum sind die Leute, die das Judentum am Leben erhalten. Wenn alle wären so wie ich, dann gäbe es schon lange kein Judentum mehr.

  • Glossar:

1 ESRA

1994 gegründet, bemüht sich das psychosoziale Zentrum ESRA um die medizinische, therapeutische und sozialarbeiterische Versorgung von Opfern der Shoah und deren Angehörigen sowie um die Beratung und Betreuung von in Wien lebenden Juden; weiters bietet ESRA Integrationshilfen für jüdische Zuwanderer.

2 Maly Trostinec

Konzentrationslager in der Nähe von Minsk. In Maly Trostinec wurden Zehntausende Juden aus Weißrussland und anderen europäischen Ländern umgebracht. Von 9.000 Juden aus Österreich, die zwischen Mai und Oktober 1942 nach Maly Trostinec gebracht wurden, überlebten 17.

3 Nisko

Ort im Karpatenvorland. Im Rahmen der 'Umsiedlung nach dem Osten' gelangten Ende 1939 zwei Transporte mit 1.500 Wiener Juden nach Nisko. Nur 200 Männer gelangten in das Lager, die Mehrheit wurde über die deutsch-sowjetische Demarkationslinie gejagt. Nach dem Abbruch der Aktion wurden im April 1940 198 Männer nach Wien zurückgeschickt - viele von ihnen wurden mit späteren Transporten neuerlich deportiert.

4 Kibbutz [Pl

: Kibbutzim]: landwirtschaftliche Kollektivsiedlung in Palästina, bzw. Israel, die auf genossenschaftlichem Eigentum und gemeinschaftlicher Arbeit beruht.

5 Pessach

Feiertag am 1. Frühlingsvollmond, zur Erinnerung an die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, auch als Fest der ungesäuerten Brote [Mazza] bezeichnet.

6 Bar Mitzwa

[od. Bar Mizwa; aramäisch: Sohn des Gebots], ist die Bezeichnung einerseits für den religionsmündigen jüdischen Jugendlichen, andererseits für den Tag, an dem er diese Religionsmündigkeit erwirbt, und die oft damit verbundene Feier. Bei diesem Ritus wird der Junge in die Gemeinde aufgenommen.

7 Bürgerkrieg in Österreich [Februarkämpfe 1934]

Die Gegensätze zwischen den Sozialdemokraten und den Christlichsozialen bzw. der Regierung führten im Februar 1934 zum Bürgerkrieg in Österreich. Die Februarkämpfe brachen in Linz aus und breiteten sich nach Wien aus.

Der unorganisierte Aufstand forderte mehr als 300 Tote und 700 Verwundete [auf beiden Seiten]. Außerdem führte er zum Verbot der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften sowie die Ausrufung 1934 des Ständestaats.

8 Kindertransport

Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs rief die britische Regierung eine Rettungsaktion ins Leben, um Kinder vor dem Nazi- Terror zu bewahren. Zehntausend größtenteils jüdische Kinder aus deutsch besetzten Gebieten wurden nach Großbritannien gebracht und von britischen Pflegeeltern aufgenommen.

6 Hagana [hebr

'Verteidigung]: 1920 gegründete zionistische Militärorganisation in Palästina während des britischen Mandats [1920- 1948], die Juden vor arabischen Überfällen schützen sollte. Die Hagana unterstand der Histadrut [Gewerkschaft]. Sie wurde so zum Vorläufer der israelischen Armee, in der sie nach der Staatsgründung aufging.