Edith Landesmann

Edith und Kurt  Stiassny

 Edith Landesmann, geb. Stiassny

Meine Familiengeschichte
Meine Kindheit
Während des Krieges
Neue Heimat
Nach dem Krieg
Von Wien nach Zürich
Rückkehr nach Wien

Meine Familiengeschichte

Meine Mutter Josefine Stiassny (geborene Wolf) wurde in Witkowitz (einer Industriestadt mit bekannten Kohlebergwerken an der tschechisch-polnischen Grenze) am 19. April 1894 geboren. Ihr Vater Moritz Wolf war Ingenieur bei den Werken, ihre Mutter stammte aus Polen und hieß mit Mädchennamen Marie Rosenberg. Die Familie kam Ende des 19. Jahrhunderts nach Brünn, und mein Großvater betrieb einen Kohlen- und Holzhandel. Wahrscheinlich mit gutem Erfolg, denn einige Jahre später gehörte ihm ein Teil von Königsfeld - einem Vorort von Brünn -  der „Wolfstal“ genannt wurde.

Mein Großvater hatte einen Bruder, der hat in Ungarisch-Hradisch seine letzten Jahre verbracht hat und dort Schames von der dortigen Synagoge war.
Meine Großmutter hatte einen Bruder in Brünn, der Rosenberg geheißen hat und einen wunderschönen weißen Bart hatte.

Mein Großvater war ein großer Monarchist und unterstützte die K. u. K. Monarchie bis zuletzt. Er kaufte noch Kriegsanleihen, als der Krieg schon verloren war, und verkaufte sogar zu diesem Zwecke das große Haus. Am  Ende des Krieges war er vollkommen  verarmt, und sie wohnten bis an ihr Lebensende als Untermieter in einem viel kleineren Haus nebenan.
Gestorben sind sie beide unterwegs in einem dieser Autobusse, wo man die Abgase in die Autobusse hereingeleitet hat – während dem Holocaust.

Meine Mutter hatte zwei Geschwister. Eine ältere Schwester Rosa, die später David Taub aus Zakopane (Polen) geheiratet hat. Sie war sehr musikalisch und spielte schön Klavier. Der jüngere Bruder Hermann spielte Violine oder Bratsche und meine Mutter auch Geige und Zither. So wurde oft im Hause Wolf zur Hausmusik eingeladen. Sie hatten einen Knecht, der im Betrieb mithalf, und eine Magd für den Haushalt. Meine Großmutter führte die Buchhaltung, was für diese Zeit recht ungewöhnlich war. So mussten die Mädchen bald lernen, den Haushalt zu führen. Sie hatten ein großes Haus und einen ganz großen Raum im oberen Stock, der Reitschule genannt wurde. Heute, hundert Jahre später, ist dieses Haus unter Denkmalschutz und in dem "Reitsaal" ist ein Theater. Die Adresse ist Königsfeld Palackeho 1.

Als die Kinder klein waren, trug sie der Knecht bei Schlechtwetter auf den Schultern in die Schule. Sie waren auch die einzigen Kinder, die Schuhe besaßen, das war ihnen peinlich, so zogen sie die Schuhe aus und stellten sie in ein Haustor.

Meine Mutter erzählte mir oft, wie sie mit den Arbeitern in den Wald fuhr und zusah, wie man die Bäume fällte, sie abschälte und zur Straße brachte. Sie kannte dadurch die Namen vieler Waldblumen und alle Pilze, ob sie essbar oder giftig waren.

Mein Vater Karel Stiassny wurde am 6.12.1892 in Brünn geboren. Sein Vater Isaak, Ignaz kam aus Kremsier, einer kleinen Stadt in Mähren, er war angeblich Fuhrwerker. Meine Großmutter Cecilie, geborene Hochwald, kam aus Boskowitz, damals eine große jüdische Gemeinde. Bei einem Besuch in Boskowitz vor einigen Jahren, konnte ich noch einige Grabsteine mit dem Namen Hochwald finden. Mein Großvater, den ich nie kannte, starb, als mein Vater 11 Jahre alt war. So blieb die Witwe mit sechs kleinen Kindern zurück. Sie starb 1928. Eine Tochter starb noch in derselben Woche, in der ihr Vater, also mein Großvater, beerdigt wurde. Nun war der Älteste - Fritz - 14 und die Jüngste -  Henriette - „Jetty“ 2 Jahre alt. Es war sicherlich schwer, die ganze Familie zu ernähren, wo doch damals Frauen keinen Beruf hatten. Die Großmutter vermietete Teile ihrer Wohnung und  kochte für fremde Leute.
Fritz heiratete schon mit 17 Jahren und übersiedelte nach Teplitz in Nordböhmen. Er war immer das schwarze Schaf der Familie, denn er war ein Spieler, und er war ewig in Geldnöten. Er hatte zwei Töchter: Else, die sechs Jahre älter war als ich und viele Sommer mit uns in Bilowitz verbrachte. Ihre Schwester Martha war in meinem Alter, doch ich sah sie nur einmal, im Sommer 1938. Sie wurde dann in einem KZ ermordet.
Die älteste Schwester meines Vaters war Pepi - oder Josefine - verheiratet mit Peppo Pavlitschek, einem  Nichtjuden, sie konnte dadurch den Holocaust überleben. Auch ihre Kinder Lilly und Fritzi haben überlebt, zwar unter widrigen Umständen, aber ich habe sie nach dem Krieg wieder gefunden.
Die nächste Schwester hieß Grete, sie heiratete Bruno Braun, Holzhändler in Brünn, der dann zufällig den Holzplatz meines Großvaters in Wolfstal erwarb. Ich habe dort mit meinen Cousinen Fritzi und Lilly oft gespielt. Das Ehepaar Braun hatte keine eigenen Kinder. Sie wurden im KZ ermordet.
Dann war da Alfred, der jüngste Bruder meines Vaters, für den er sich immer besonders verantwortlich fühlte. Schon in Brünn arbeitete er im Betrieb meines Vaters, wo er zum Textilfachmann ausgebildet wurde. Auch später in Palästina hat er wieder mit meinem Vater gearbeitet.
Die jüngste Schwester meines Vaters war Jetty, Henriette, meine Lieblingstante, denn obzwar sie keine Kinder hatte, verstand sie es doch, mit mir sehr schön zu spielen. Einmal fuhr ich zu ihr, um zu übernachten. Sie wohnten in einem Vorort von Brünn, und ich fuhr das erste Mal allein mit der Straßenbahn! Es war alles sehr schön, bis ich schlafen gehen sollte, da überfiel mich die Angst, und ich wollte sofort nach Hause! Ich weinte und sagte, ich müsste ganz schnell nach Hause, denn ich konnte das Geburtstagsgedicht für meine Mutter noch nicht auswendig! Der Geburtstag war erst in einem Monat!!! Auch Tante Jetty konnte überleben, denn auch ihr Mann war kein Jude. Sie musste den Stern tragen und wurde auch später nach Theresienstadt verschickt, aber in eine Abteilung für Mischehen.

Der Name Stiassny ist ein urtschechischer Name und bedeutet „glücklich“. Als Hitler die Tschechoslowakei besetzte, dachte mein Onkel, der Mann von Tante Jetty, wenn er beweisen kann, dass die Stiassnys schon 300 Jahre in Brünn ansässig waren, man sie nicht vertreiben würde! Er behauptete, dass sich nach den Kreuzzügen ein Ritter in eine aus Spanien 1492 geflüchtete Jüdin verliebte, und ihr zuliebe zum Judentum übergetreten ist.

Als ich im Jahre 1995 Prag besuchte, konnte man das erste Mal am Hradschin eine neue Abteilung besichtigen. Dort waren die Wappen der Kammerherren des 17. Jahrhunderts zu sehen. Wir fanden ein Wappen der Herren von Stiassny, und so wurde die Geschichte bestätigt. Trotzdem half es nicht gegen die Nürnberger Gesetze, und wir mussten das Land verlassen.

Mit 18 Jahren musste mein Vater zum K.u.K. Militär einrücken, und als er die normale Pflichtzeit hinter sich hatte, fing der erste Weltkrieg an, und er wurde gleich weiter verpflichtet. Er kam zu einem Tiroler Regiment, welches in Steyr stationiert war. Als er noch in seiner Zivilkleidung dort ankam, sah man aus seinen Papieren, dass er Jude ist, und fragte ihn deswegen, ob er gut rechnen kann. Als er bejahte, in der Hoffnung, dadurch vielleicht einen besseren Job zu bekommen , führte man ihn in den Pferdestall und befahl ihm zu zählen, wie viele Rossknödel in seinem Zivilhut Platz hätten!

Mein Vater konnte sich jedoch später gegen den Antisemitismus durchsetzen, er wurde auch mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Bei Kriegsende war er für die Handkasse des Regimentes verantwortlich. Das hatte zur Folge, dass er erst viel später abrüsten konnte als alle anderen, denn er suchte in dem Wirrwarr der letzten Kriegstage jemanden, dem er die Kasse ordentlich übergeben konnte!

Meine Eltern lernten sich in dem damals neugegründeten Jüdischen Turnverein "Maccabi" kennen. Mein Vater war einer der Gründer und war auch Mutters Vorturner. Schnell freundete sich meine Mutter mit den Schwestern meines Vaters an, und es wurde eine Freundschaft, die bis zur Nazizeit andauerte, bis unsere ganze Familie auseinander getrieben wurde.

Es war für meinen Vater, sehr schwer Arbeit zu finden, obwohl er die Textilschule beendet hatte, und so verdiente er sich seinen Unterhalt durch Schönschreiben. Er hatte eine sehr schöne Handschrift und schrieb für Firmen Couverts. Bald jedoch wurde er in einer großen Textilfirma Hanak & Essler aufgenommen, wo er es im Laufe der Jahre bis zum Direktor brachte.

Meine Kindheit

Anfangs wohnten meine Eltern in einem Vorort von Brünn, nicht weit von der Fabrik Malomerize entfernt. Dort wurde auch mein Bruder Kurt am 21. Oktober 1922 geboren. Das Einkommen war noch ziemlich klein, und so eröffnete meine Mutter ein Geschäft mit Handarbeiten. Man konnte bei ihr handgestickte Ausstattungen für junge Bräute bestellen.

Vor meiner Geburt hatte meine Mutter zwei Fehlgeburten, doch als ich dann am 5.1.1926 zur Welt kam, suchte man eine Hilfe und fand "meine Mania". Als mein Vater sie abholen wollte, weigerte sie sich mitzukommen, denn sie wollte nur in einem jüdischen Haushalt dienen! Mein Vater überzeugte sie, dass er, trotzdem er nicht jüdisch aussehe, Jude sei. So kam sie mit. Mania war ein intelligentes Mädchen mit Matura. Für ein Mädchen vom Land sehr ungewöhnlich, und sie beeinflusste meine ersten Lebensjahre vielleicht mehr als meine Eltern.

Meine Mutter hatte nach meiner Geburt Angstträume. Sie sah immer graue Frauen, die sich über mein Bettchen beugten und mich wegnehmen wollten. Es war so arg, dass sie einen Psychiater aufsuchte, was zu jener Zeit noch nicht üblich war. Wir wohnten damals schon auf der Pragerstr. 64, wo wir eine schöne Drei-Zimmerwohnung hatten
Ich wuchs mehr mit Mania auf als mit meinen Eltern, denn Mutter hatte Angst, das erste Kind könnte unter der "Konkurrenz" leiden.
Als Mania heiratete, war ich "Kranzljungfrau", hatte ein Kleid mit Spitzerln und Mascherln, wie ich es mir wünschte, sehr gegen den Geschmack meiner Mutter, die das Einfache liebte. Ich war sehr unglücklich, dass ich meine Mania an Bohusch abtreten musste! Ich war sieben und ging in die erste Klasse. Für mein Alter war ich groß und stark, obwohl ich meiner Mutter immer Kummer bereitete, weil ich nicht gerne aß.

Noch vor Manias Hochzeit übersiedelten wir in die Stadtmitte - Blatna 1 - in eine sehr schöne Wohnung, die von einem Architekten eingerichtet wurde. Ich besuchte einen tschechischen Kindergarten. Mein Bruder ging in einen deutschen und kam eines Tages nach Hause mit der Bemerkung: "Ich will nicht mehr tschechisch sprechen, tschechisch sprechen nur die gewöhnlichen Leute!". Er ging dann auch in die deutsche Volksschule, und als wir übersiedelten, wurden wir beide in die jüdische Schule eingeschult, wo die Unterrichtssprache tschechisch war. In der Schule gab es nur jüdische Kinder, und auch die Lehrer waren größtenteils Juden. Wir hatten Samstag schulfrei und Sonntag Unterricht.
Ich hatte auch in der Schule viele Freundinnen, lernte Klavierspielen, sehr ungern, eine Zeit lang tanzte ich Ballett, aber ich war zu groß und zu dick für mein Alter. Natürlich gingen wir beide, Kurt und ich, in den jüdischen Turnverein Maccabi, den doch mein Vater mitgegründet hatte, und später auch in den Jugendbund Maccabi Hazair. Wir waren also fast ausschließlich in jüdischer Gesellschaft und hatten daher keine Probleme mit unserem Judentum. Außer Anna und einem Mädchen, das über uns im selben Haus wohnte, hatten wir keinen Kontakt zu Nichtjuden.

Die Sommer verbrachten wir, so lange ich noch nicht zur Schule ging, in Bilowize, einem Dorf zwei Bahnstationen von Brünn und nicht weit von Vaters Fabrik. Wir übersiedelten mit dem ganzen Hausrat, Kindermädchen und Hund schon im Mai, und kamen erst im Oktober nach Brünn zurück., Die Schulkinder - mit uns übersiedelten noch mindestens acht andere jüdische Familien in dasselbe Dorf, um dort den Sommer zu verbringen - fuhren täglich in Begleitung eines Erwachsenen nach Brünn in die Schule. Ich war die Kleinste und blieb mit den Dorfkindern zurück. Es war für uns ein Paradies! Im Dorf war ein Bach mit einem Wehr, an heißen Tagen konnten wir stundenlang im Wasser planschen. Die Eltern gingen kegeln, wir durften alle Neune wieder aufstellen. Wir machten auch schöne Ausflüge in die Umgebung mit der ganzen Gesellschaft, und wenn ich müde wurde, trug mich mein Vater auf den Schultern und sang. Er hatte einen guten Bariton und verdiente sich in seiner Jugend etwas Geld als Chorist und Statist am Theater. Da machte er auch die Bekanntschaft von Leo Slezak und Maria Jeritza, damals die bedeutendsten Opernstars. Ich liebte es wenn er sang: "Gold und Silber hab ich gern...." und  „Der Mann mit dem Koks ist da!“

Meine Cousine Else, die in Teplitz wohnte, kam meistens über den Sommer zu uns, und sie war eine gute Spielkameradin. Wir hatten von irgendwo Kostüme und spielten "Umziehen", manchmal auch Theater. Ich tanzte gerne und meinte, ich wäre eine Märchenfee. Da bekam ich den Namen Zizifee, und da ich die Kleinste war, wurde ich auch Nuninko genannt, Goldinko und viele andere Kosenamen. Ich brauchte lange Zeit um durchzusetzen, dass man mich nur bei meinem richtigen Namen rufe. Wir brieten Kartoffel auf dem Feld und sprangen dann über die Glut. Mein Schmerz war, ich konnte nicht barfuss über die Stoppelfelder laufen wie die Dorfkinder.

Als ich neun Jahre alt war, entschlossen sich meine Eltern, uns das erste Mal ins Ausland zu nehmen. Wir mieteten eine Pension in Portorosa an der adriatischen Küste Italiens. Schon die lange Bahnfahrt mit dem Nachtzug war ein Erlebnis! Wir hatten natürlich keinen Schlafwagen, wie es heute selbstverständlich wäre, wir schliefen auf den Bänken des 2. Klasse Abteils. In unserem Hotel gab es Tanznachmittage für Kinder. Wir lernten Walzer, Tango, Menuette und Rondo! Mir gefiel das sehr gut, doch mein Bruder litt! Oft mieteten mein Bruder und ich ein Ruderboot und fuhren weit hinaus aufs Meer. Meine Mutter, eine begeisterte Nichtschwimmerin, musste dann den Schwimmmeister bitten, uns zurückzuholen. Als ich dann in die Schule kam, fuhren wir nicht mehr nach Bilowitz, sondern jedes Jahr woanders hin, aber immer mit großer Gesellschaft und vielen Kindern. Ich erinnere mich an Radeshin. Wir wohnten direkt am See, in dem ich schwimmen lernte. Alle anderen Kinder konnten schon frei schwimmen, so machte ich "als ob" und während ich oben die Tempi machte, behielt ich einen Fuß am Boden. Einen anderen Sommer verbrachten wir in Dukovany- heute ist dort ein Atomkraftwerk - wir wurden vom Schlossherrn als zahlende Gäste eingeladen, natürlich wieder mit der ganzen Gesellschaft. Wir waren mindestens zehn Kinder in allen Altersklassen, ich wieder die Jüngste. Die Väter kamen immer nur zum Wochenende, da mussten wir ihnen auch alles erzählen, was sich in der Woche zugetragen hatte.

Im Jahre 1932 war in ganz Europa eine große Wirtschaftskrise. Viele Menschen wurden arbeitslos, und es herrschte große Not und Armut. G’tt sei Dank war unsere Familie nicht davon betroffen. Meine Mutter hatte jedoch Angst, das Gehalt meines Vaters könnte gekürzt werden, außerdem wollte sie wahrscheinlich nicht mehr nur im Haushalt tätig sein. Deswegen wollte sie ein Geschäft kaufen. Ich hoffte, sie würde ein Papierwarengeschäft kaufen, das hätte mir gefallen. Doch sie entschloss sich für ein exquisites Damenstoffgeschäft im Zentrum der Stadt.

Ich ging nun schon in die erste Klasse des jüdischen Gymnasiums, war eine gute Schülerin, hatte viele Freundinnen und sogar schon einige Verehrer, die mir meine Schultasche trugen. Am Nachmittag musste ich überlegen, ob ich mit meiner Freundin und den Puppenwagen spazieren gehen oder lieber mich mit den Buben im „Glacis“ treffen sollte. In dem Alter wusste ich oft nicht, was mit mir anzufangen, zum Beispiel habe ich mir eingebildet, da ich immer ein dunkler Typ war und mein Bruder blond und blauäugig, dass ich eigentlich ein Zigeunerkind war, welches meine Eltern in Bilowitz, unserem Sommersitz, wo immer Zigeuner in ihren Wägen waren, zu sich genommen hatten. Das war auch ein Grund, meiner Meinung nach, warum meine Mutter mich immer strenger bestrafte als meinen Bruder! Ich sperrte mich im Badezimmer ein und heulte jämmerlich! Ich war auch nicht gerne am Abend alleine zu Hause - ich fühlte mich sooo einsam!
Die Eltern waren beide sehr aktiv in vielen Vereinen: Maccabi, Loge, Wizo, Frauenverein, im Schulkomitee, und vielen anderen. So ist es kein Wunder, dass ich mir zu meinem 10. Geburtstag wünschte, einmal beide Eltern am Abend zu Hause zu haben.!

In die Schule ging ich zu Fuß, und es dauerte 20 Minuten, doch für den Heimweg brauchte ich zu einer Stunde. Erstens führte der Weg an einer Wand mit Bildern aus Filmen vorbei, und ich stand davor und malte mir den Inhalt des Filmes aus. Dann kam ich am elegantesten Hotel, dem Grand Hotel, vorbei, und ich schaute in die Halle und dachte, was müssen das für Menschen sein, die in so vornehmen Hotels wohnen. Der dritte Grund für mein langsames Gehen war die Angst vor dem Mittagessen. Ich hatte nie Hunger, und einen Widerwillen zu essen, doch ich musste alles, was auf den Teller kam, aufessen. Wenn ich nicht essen wollte, wurde ich in das Vorzimmer geschickt.

An unserem Mittagstisch nahmen oft viele Leute Teil. Alle wollten mit Papa verschiedenes besprechen, und so war es an einem Tag der Kassier von Maccabi, nächstens dann wieder jemand von der Loge, um das neue Programm zu besprechen, usw. An einem Tag der Woche konnte ich ein Kind aus meiner Klasse mitbringen, es war ein Waisenkind und hieß auch Edith.
Bevor ich in den Maccabi Hazair eintrat, fuhren wir immer mit den Eltern an den Sonntagen ins Grüne. Meistens fuhr die ganze Gesellschaft, Tanten, Onkeln, Freunde und deren Kinder. Wir hatten einen Rucksack gepackt, kaum saßen wir im Zug fing man an zu essen! Meistens hatten wir gebratene Gans oder Schnitzel eingepackt. Nach einigen Stationen stiegen wir aus, die Erwachsenen gingen direkt ins Restaurant und spielten Karten, die Kinder tollten herum. Im Sommer war meistens ein Schwimmbad in der Nähe, und wir schwammen bei jeder Temperatur.
Als ich dann in den Jugendbund eintrat, gingen wir eben mit unseren Freunden wandern. Kurt war natürlich auch im Maccabi Hazair, aber in einer älteren Gruppe. Die Eltern glaubten, er würde auf mich Acht geben, aber er hat mich vorgewarnt, ich darf niemandem erzählen, ich sei seine kleine Schwester.

So verging unsere Kindheit und Jugend, und wir Kinder merkten nicht wie sich der politische Himmel verdüsterte! Auch die Erwachsenen wollten es nicht wahrhaben, was auf uns aus Deutschland und später aus Österreich zukam. Meine Cousine Margit, die in Wien lebte, kam zu uns auf Besuch und erzählte, man male Hakenkreuze auf die Mauern und auf jüdische Geschäfte, doch bei uns meinte man das ist ja nur dort, bei den Deutschen, die Tschechen würden das nie zulassen.

In der Schule waren wir ein „Kleeblatt“: die Sonnenfeld Zwillinge und Ellen Allerhand, das meist umworbene Mädchen in unserer Klasse. Auch den Buben in den höheren Klassen gefiel sie sehr, und es gab eine Rivalität zwischen ihr und Ruth Austerlitz, die auch die beste Schülerin war. Heute sehe ich, dass wir vier die Privilegierten waren, da unsere Väter eine bedeutende Rolle in der jüdischen Gemeinde spielten. Karl Sonnenfeld, der Vater der Zwillinge, war Präsident der Gemeinde und mein Vater war in vielen Vereinen im Vorstand, auch im Elternrat der Schule.

Ich hatte also eine sehr behütete Jugend und spürte nichts von der Europaweiten Krise politisch und ökonomisch. Ich war sehr stolz, dass meine Mutter ein eigenes Geschäft hatte, und kam oft aus der Schule mit meinen Freundinnen vorbei. Dann durfte ich mir aus der Geldlade eine Krone nehmen und im Eisgeschäft auf der drüberen Seite ein Eis kaufen.  
Im Sommer fuhr ich auch nicht mehr mit den Eltern, Kurt durfte mit dem Jugendbund Maccabi Hazair in ein Pfadfinderlager, und ich fuhr mit anderen verwöhnten Kindern mit Jenda Mautner, einem Medizin Studenten, in ein Kinderheim. Den ersten Sommer waren wir in einem kleinen Ort Brumow, in einem Haus bei einem Sägewerk. Wir hatten viel Sportmöglichkeiten und ein volles Programm. Es gefiel mir sehr gut, und doch war ich neidig, dass Kurt in einem wirklichen Zeltlager war. Er fuhr auch nach Zilina, wo ein großes Maccabitreffen war. Dort ging er als Trommler gleich hinter der Maccabi Fahne, da war ich stolz, habe ihn aber auch beneidet.

Im Winter fuhren wir mit fast denselben Kindern nach Spindler-Mühle, einem Wintersportort im Norden Mährens. Ich konnte noch nicht Skifahren, das hat mir aber niemand geglaubt, da ich sonst eine gute Sportlerin war. Am Abend waren wir müde, aber wir spielten Gesellschaftsspiele und spürten nichts von der herannahenden Katastrophe. Es war das Jahr 1937, und wir befanden uns in dem später als Sudetengau bekannten Raum. Es lag noch ein schöner unbeschwerter Sommer vor uns, den wir in einem eleganten Kurort Luhacowiz verbrachten.

Während des Krieges

Im Jahre 1938 spitzte sich die politische Lage zu. Hitler besetzte Österreich. Mein Bruder Kurt war gerade 15, als Schuschnigg seine berühmte Rede endete mit den Worten: "Gott schütze Österreich". Es kamen damals die ersten Jugendzertifikate für Kinder zwischen 14 und 16 Jahren in die C.S.S.R. Aber die meisten Eltern wollte ihre Kinder nicht weglassen. Mein Vater war immer schon Zionist - er war auch Gründer des Maccabi in Brünn.

So entschlossen sich meine Eltern, meinen Bruder nach dem damaligen Palästina fahren zu lassen. Und so ging Kurt mit 15 Jahren auf Reisen. Die ganze Familie war bei uns versammelt, meine Mutter weinte, und mich schickte man zu Bett. Spät nachts begleiteten alle Kurt zum Bahnhof. Doch nach einiger Zeit hörte ich wieder Stimmen im Nebenraum. Alle waren wieder da. Am Bahnhof waren tausende Männer, die zum Militärdienst einberufen wurden.
Mein Bruder war also wieder zu Hause, denn man wusste nicht genau, wo die Grenzen waren. Erst einen Monat später konnte er mit dem Flugzeug (!!) bis Paris fliegen und ab Marseille mit dem Schiff nach Palästina fahren. Meine Eltern konnten für ihn zwei Jahre Schule bezahlen, und so kam er nach Ben-Schemen, einer Landwirtschaftsschule.

Meine Freundin Ruth und ich wurden in ein Dorf in der Nähe von Brünn geschickt, mit dem Dienstmädchen, dem Familiensilber, Fotos und anderen Andenken, um den Krieg dort abzuwarten! Aber G’tt sei Dank kam es nicht zum Krieg, und nach einer Woche kamen wir wieder zurück.
Die ganze Tschechoslowakei wurde am 15. März 1939 von den Deutschen besetzt.

Als Erstes wurde das Geschäft meiner Mutter arisiert, das heißt das Lehrmädchen übernahm die Geschäftsführung. Die Auslage wurde mit antisemitischen Parolen beschmiert: "Kauft nicht bei Juden", "Juden nach Palästina" u. s. w. Die "Ariseurin" verlangte von meiner Mutter, sie solle das Fenster abwaschen, doch meine Mutter sagte, die Aufschriften würden sie nicht stören! Das Mädchen lief immer ins "Deutsche Haus", wo das Hauptquartier der Gestapo war, um neue Instruktionen zu erhalten. Wir mussten täglich die ganze Losung an die Deutschen abliefern. Jeden Tag kamen neue Gesetze, die uns Juden zu Bürgern dritten Grades machten und später dann zu "Untermenschen".

Mein Vater war Direktor einer großen Textilfabrik und wurde sofort gekündigt. Die Leitung der Fabrik übernahm der frühere Schlosser. Nach einigen Tagen sah man, dass es so nicht funktioniert, und man rief meinen Vater wieder zurück. Da aber Juden nicht mehr die Straßenbahn benutzen durften, verlangte mein Vater eine Transportmöglichkeit. So kam es, dass täglich zwei SS-Männer mit ihrem "Kübelwagen" meinen Vater abholten und abends wieder zurückbrachten. Das war natürlich sehr riskant, denn man sperrte Juden ganz grundlos ein. Wir hatten ein großes Zimmer mit sechs Fenstern und weitem Ausblick, ich sehe meine Mutter gegen Abend von einem Fenster zum anderen gehen und Ausschau halten, ob mein Vater auch wieder nach Hause kommt! Von all diesen Aufregungen bekam meine Mutter einen Stimmbänderkrampf und verlor ihre Stimme. Es war eine sehr aufregende Zeit, und wir alle wurden sehr eingeschüchtert und verschreckt. Das war aber erst der Anfang, und G’tt sei Dank blieben mir und meiner Familie die weiteren Schrecken erspart! Denn schon im Mai kam ein Brief an einige Textilfabriken in Brünn, man suche einen Fachmann zwecks Errichtung eines Werkes in Palästina. Mein Vater meldete sich sofort, und nun begann die bange Zeit des Wartens! Inzwischen kamen immer neue Gesetze, und wir wurden immer mehr unserer bürgerlichen Rechte beraubt. Als es soweit war und wir alle nötigen Bestätigungen beieinander hatten, mussten wir alle Schmuck und Wertsachen an die Deutschen abgeben. Auf alles was wir ausführen wollten mussten wir 1oo Prozent Abgaben zahlen, außerdem eine Reichsfluchtsteuer, Judenvermögensabgabe, usw.  Geld durften wir sowieso keines mitnehmen, so kauften meine Eltern alles, was sie dachten in nächster Zukunft brauchen zu können.

Als alle unsere Sachen eingepackt waren, übersiedelten wir zu meiner Tante - der Schwester meiner Mutter - nach Königsfeld, einem Vorort von Brünn. Die Schule ging zu Ende. Es waren immer weniger Schüler da, denn wer konnte, reiste aus. Es war ein sehr heißer Sommer, aber wir durften weder in einen Park gehen, noch in eine Badeanstalt, auch war uns das Benützen von Straßenbahn und anderen Verkehrsmitteln verboten. So schlichen wir in der Umgebung der Stadt herum, und die Nervosität unserer Eltern übertrug sich auch auf uns. Der Vater von Ruth, der als Präsident der Kultusgemeinde als einer der Ersten verhaftet worden war, wurde entlassen. Er kam als gebrochener, total veränderter Mann zurück und durfte nie erzählen, was ihm zugestoßen war.

Endlich kam der Tag unserer Abreise. Die Schwestern meines Vaters begleiteten uns noch bis Prag, dort wohnten wir noch zwei drei Tage im Hotel Paris, dann kam der Abschied auch von den letzten Familienmitgliedern. Besonders in Erinnerung ist mir der Abschied von meinen Großeltern. Unser Verhältnis war immer sehr distanziert. Ich erinnere mich nicht, mit ihnen gespielt oder Zärtlichkeiten oder Geschenke bekommen zu haben. Wir gingen hin, weil wir die Mama begleiteten. Doch an dem Tag, als ich mit meiner Mutter mich verabschieden ging, weinte mein Großvater bitterlich und suchte in einer Schachtel nach einem Geschenk für Kurt. Er wusste, wir würden einander nie mehr wieder sehen!

Von Prag fuhren wir über Wien nach Triest. Wir kamen zur Grenze des so genannten Protektorats Böhmen und Mähren. Einige Zollbeamte in deutscher Uniform sahen meinen kleinen Ring, den ich von meinem Bruder als Andenken bekommen hatte. Juden mussten schon längst alle ihre Wertsachen abgeben, nur Eheringe konnte man behalten. Also musste mein Vater aussteigen, um eine Adresse anzugeben, zu der man den Ring schicken sollte. Der Zug setzte sich in Bewegung, und mein Vater war nicht zurückgekommen! Wir beide gerieten in Panik. Als der Zug schon in voller Fahrt war, kam mein Vater endlich zu uns. Es war ihm gelungen, noch in letzter Minute aufzuspringen. Als ich im Jahre 1947 nach Brünn kam und Erkundigungen einholte, was mit unserer Familie geschehen war, fand ich diesen Ring bei einem Bekannten meiner Tante! Die Menschen wurden ermordet, aber der Ring wurde an der gewünschten Adresse abgegeben.

Wir saßen also in unserem Erste Klasse Abteil und fuhren in sehr bedrückter Stimmung durch das Deutsche Reich. In Triest angekommen, erwartete uns dank der Verbindung meines Vaters in der zionistischen Bewegung, jemand vom Auswanderungsamt. Wir hatten jeder 10 Mark in der Tasche, nicht einmal genug für die Übernachtung! Man brachte uns in ein Auswanderer-Zentrum. Dort blieben wir über Nacht und bekamen etwas zu essen. Wir fühlten uns elend, doch wenn ich später hörte, was andere mitgemacht haben, waren wir wirklich Glückspilze!

Neue Heimat

Am nächsten Tag schifften wir uns ein und fuhren, wieder Erste Klasse, in unsere neue Heimat! Es war eine Luxusreise, die ich sehr genoss, meine Eltern weniger, denn sie wussten, dass der Krieg jeden Tag ausbrechen konnte, und hofften, dass wir Palästina noch erreichen könnten. Es gelang - wir  kamen eine Woche vor Kriegsausbruch an.

Zu unserer großen Überraschung erwarteten uns am Pier nicht nur mein Bruder, sondern auch eine Menge „Zöglinge“, die mein Vater als guter Zionist nach Palästina geschickt hatte. Einer von ihnen besaß eine Autowerkstatt, wo er sich ein  tolles Cabriolet eines Kunden ausgeliehen hatte, um uns nach Ramat-Gan zu führen. Zwischen Haifa und Ramat-Gan war eine lange Strecke nur Wüste. Es war Mitte August, und von Aircondition hat man nicht einmal noch geträumt! Wir fuhren also in der größten Mittagshitze direkt in die neue Fabrik „Argaman“.

So fing das Leben in unserer neuen Heimat an! Wir wohnten in Untermiete, bis wir eine passende Wohnung fanden. Die Not in Palästina war sehr groß, und die meisten Wohnungen wurden an zwei bis drei Familien vermietet. Meine Mutter jammerte: „Hätte ich nur nicht die ganzen Möbel mitgebracht!“. So mussten wir eine Dreizimmerwohnung mieten. Die Miete betrug 3,5 englische Pfund. Mein Vater verdiente 17, mein Schulgeld war 1 Pfund. Wir waren für damalige Verhältnisse sehr gut dran, und so kamen alle neuen Einwanderer, die inzwischen aus Brünn illegal einwanderten, erst mal zu uns, bis sie sich irgendwie einordnen konnten. Wir waren bis zu 17 Personen in der Wohnung, selbstverständlich mit Speis und Trank! Ich schlief in der Bettkiste, mein Bruder, der sehr unglücklich in Ben-Schemen war, auf einer Luftmatratze am Balkon. Natürlich war das Leben unter diesen Umständen nicht leicht. Meine Mutter arbeitete schwer, um mit dem Geld auszukommen und auch sonst kein Chaos aufkommen zu lassen! Aber wir empfanden das für selbstverständlich, jeder half jedem. Man schrieb mich in eine Histadruthschule ein, obwohl ich meinte, bis zu meinem 14. Geburtstag stehe es nicht mehr dafür, überhaupt mit der Schule anzufangen, wo ich doch die Sprache nicht kannte und nach 14 überhaupt nicht mehr in die Schule gehen wollte.

Binnen kürzester Zeit habe ich die Sprache erlernt und mich gut in die Klasse integriert. Da ich schon aus Brünn etwas Iwrith konnte, hatte ich bis nach den Sukkoth Feiertagen die Klasse eingeholt, auch sonst konnte ich mich, dank der Erziehung im Jugendbund Maccabi Hazair, leichter einfügen! Mein großes "Problem" war, ich musste in Kleidern zur Schule gehen, wo doch alle Kinder in khakifarbenen oder blauen Hosen und Hemden waren! Zu meinem ersten Geburtstag in Palästina wünschte ich mir also auch khaki Hosen und Hemd, obzwar ich wusste, dass es das Budget meiner Eltern belastete! Am Ende des Schuljahres bekam ich "Papadatschi", eine Art Malaria, und konnte das Schulabschlussfest nicht mitmachen - es war die 8. Klasse und somit das Ende der Pflichtschule. So hat der Klassenvorstand die ganze Klasse einfach zu mir nach Hause gebracht. Die Kinder saßen auf der Erde, und meine Mutter bot ihnen an, was gerade im Haus war. Nächsten Tag erzählte man in der Schule, ich wohnte in einem Museum, weil wir doch unsere europäischen Möbel mit hatten mit Nippessachen in der Vitrine. Eine kleine Episode am Rande: Ich wollte so wenig wie möglich "anders" sein, so nahm ich einen Iwrith Namen an, anstatt Edith Stiassny (das konnte sowieso niemand aussprechen) nannte ich mich Esther Meuschar (übersetzt von Stiassny). Meine Freundinnen wollten mich besuchen, als ihnen die Mama öffnete, fragten sie nach Esther. Meine Mutter sagte, so eine wohne nicht hier. Um genau zu sein, fragten die Kinder "Esther Meuschar?". "Die schon gar nicht!" war die Antwort. Ich hatte vergessen, meinen neuen Namen auch meinen Eltern mitzuteilen!
Es war eine schöne Zeit für mich, obwohl in Europa der Krieg wütete, und die Verfolgung und Ausrottung der Juden im Holocaust ihren Lauf nahm! Wir ahnten damals noch nichts von den Gräueln, die in Europa  vor sich gingen!

Meine Eltern wollten sehr, ich solle weiter ins Gymnasium gehen und später vielleicht studieren. Was heute selbstverständlich wäre, war damals die Ausnahme. Ich wusste, dass dies mit vielen finanziellen Opfern verbunden wäre, und ich wollte lieber etwas Nützliches lernen. Nach einem Jahr in einer komischen Privatschule, ging ich in eine Modeschule, wo ich über Modezeichnen (ich habe ganz gut Zeichnen und Malen können), Modeschmuck und Handarbeiten bis zum Kleidernähen und Zuschneiden alles lernte. Es machte mir Spaß! Ich ging weiter in die sozialistische Jugendbewegung, gemeinsam mit meiner Freundin Ruth Sonnenfeld, der es auch gelungen war, dem Inferno zu entrinnen. Sie hat bei uns gelebt, bis später auch ihre Zwillingsschwester Margit kam und Ruth mit ihr in das Kinderdorf Shfeah ging. Doch diese Freundschaft verbindet uns heute noch, obwohl sich unser Leben nach unserer Heirat in ganz verschiedene Richtungen entwickelt hat!
Im Jugendbund Gordonia wurden wir weiter zionistisch-sozialistisch indoktriniert, und so kam es selbstverständlich, als der Krieg immer näher an unsere Grenzen kam, es war die Schlacht um El-Alamein, dass unsere Jungens sich freiwillig zum englischen Militär meldeten. Später gründeten sie auch eine eigene Jüdische Brigade . Diese wurde von den Engländern "Two Shilling Trouble Makers" genannt, weil sie darauf bestanden, auf ihrem Emblem, welches dem englischen Shilling ähnlich sah, auch die Buchstaben Alef- Jud, die Initialen Eretz Israels, zu haben. Auch wir Mädchen wollten etwas zum Kriegseinsatz beitragen. Da wir aber zu jung waren, um zum Militär zu gehen, wollten wir wenigstens im Lande etwas Nützliches machen. So entschlossen wir uns, einen neuen Kibbuz zu gründen.

Meine Gruppe in der Gordonia ging im Sommer 1942 auf Sommerlager in die Kwutzah Ramat-David und wollte auch gleich dort zur Hachschara bleiben. Nach langen Debatten mit meinen Eltern durfte ich auf drei Wochen mitfahren. Von dort schrieb ich dann, dass ich mich entschlossen habe, mit zur Hachschara zu gehen, da ich auch weiter in einer Kwutzah leben wollte. Es war nicht nur das Bedürfnis, etwas für den Kriegseinsatz zu tun. Ich glaubte an das Ideal, das im Kibbuzleben verwirklicht wurde. Alle sollten nach ihren Kräften zum allgemeinen Wohl beitragen und alles für ihre Bedürfnisse Notwendige bekommen. Das Leben in der Kwutzah war mehr als "spartanisch", doch ich wollte aus Idealismus gerne alles auf mich nehmen! Als meine Eltern meinen Brief erhielten, kam meine Mutter per Taxi (das war damals ein unglaublicher Luxus), um mich und meine Freundin Ruth Ehrlich abzuholen! Meine Mutter fing an, meine spärlichen Sachen einzupacken, denn sie sagte, wenn ich da bliebe, wäre ich für sie gestorben, und ein Kind begrabe man nackt. Heute verstehe  ich meine Eltern und welches Leid ich ihnen angetan habe, doch damals war ich von meinem Ideal überzeugt! Im Nebenraum waren alle unsere Freunde versammelt und rieten uns, stark zu bleiben und nicht nachzugeben! Als meine Mutter sah, dass es nichts nütze, meine Sachen mitzu- nehmen, sagte sie, ich solle wenigstens auf 14 Tage nach Hause kommen, damit sie auf Urlaub gehen könne. Sie war, seit wir in Palästina waren, noch nie auf Urlaub, und so konnte ich ihr diese Bitte nicht abschlagen! Natürlich ging meine Mutter nicht auf Urlaub. Der Sommer ging zu Ende, und mein Vater drängte darauf, ich solle etwas tun. Entweder Lernen oder Arbeiten. Da ich mich weigerte, weil ich doch wieder in die Kwutzah zurückwollte, bekam ich meine letzte Ohrfeige von meinem Vater. Ich wurde nicht mehr seit meiner Kindheit geschlagen, und dann nur, weil ich nicht essen wollte und damit meine Mutter zum Wahnsinn gebracht habe! Ich ging also zu einer Schneiderin und bekam eine Arbeit. Als zwei Wochen vergingen, heckten meine Freundin und ich einen neuen Plan aus, wie wir doch zu unseren Kameraden kommen könnten.

Ich ging also wie immer morgens zu Arbeit, hatte aber mit meiner Freundin verabredet, sie zu Mittag, am Autobusbahnhof zu treffen. Als ich dort ankam, waren Ruth und noch einige unserer Kameraden dort und waren außer sich, denn am Bahnsteig standen meine Eltern! Sie hatten Ruth angerufen und gefragt, wann und wo wir uns treffen wollten, sie würden mir etwas nachbringen. Ruth sagte ihnen eine Stunde später, als wir verabredet waren, doch die Eltern ließen sich nicht täuschen und waren schon da, als ich ankam. Man versteckte mich hinter einem Stapel Orangenkisten. Meine Freunde und ich berieten, wie es weitergehen sollte.

Ruth und ich beschlossen mit einem arabischen Bus, erstmal in den Kibbuz unseres "Madrichs" [Führers] zu fahren. Dort wurden wir sehr schön aufgenommen, und als Mädchen mit Pioniergeist, die bereit waren für ihre Ideale zu kämpfen, gefeiert! Nach einigen Tagen fuhren wir dann in "unseren" Kibbuz, Ramat-David. Es war Herbst, und wir wohnten in Hütten aus Stroh, unsere Betten waren Strohballen, darauf strohgefüllte Säcke, außerdem hatten wir noch eine Orangenkiste für unsere spärlichen Privatsachen. Wir arbeiteten jeden Tag woanders. Mal im Apfelhain (da konnten wir sogar Äpfel essen!), mal in der Küche Geschirr waschen für 160 Personen! Aber das war nicht so arg, denn es gab nur einen Teller pro Person. Erst die Fleischspeise, Beilagen waren am Tisch,  meist ein Getreide, das Burgul hieß, Tomaten, Gurken u.s.w. Dann konnte man sich aus einer großen Schüssel Suppe nehmen - Kartoffel gab es damals in Palästina kaum. Wir hungerten also nicht, aber manchmal hätten wir gerne etwas Abwechslung gehabt! Wir waren 16 Jugendliche, die beschlossen hatten, unser Leben gemeinsam nach unseren Idealen zu leben. Abends saßen wir oft stundenlang zusammen, diskutierten, sangen romantische Lieder, oder hörten Vorträge im Speisesaal des Kibbuz.

Draußen in Europa wütete der Krieg. Millionen Menschen wurden umgebracht, aber davon ahnten wir noch nichts. Nach einigen Wochen kam Ruths Vater, um uns abzuholen. Ruth kehrte mit ihm nach Tel-Aviv zurück, aber ich blieb. Ich besaß nur die eine Hose und ein Hemd, in dem ich von zu Hause weggegangen war, aber jede Woche bekam jeder von uns frische Wäsche. Eine Garnitur für die Arbeit und eine für Schabbat und den Abend.

Eines Tages kam ein großer Wind und zerstörte unsere Sukkah. So wurden wir einfach in den aufgelassenen Hühnerstall übersiedelt. Der hatte ein schräges Dach, und an der anderen Seite sollte er Glasfenster haben. Leider waren alle Fenster zerbrochen. Es war Winter, nass und feucht. Wenn es regnete, tropfte es genau auf mein Bett. Ich hatte eine eitrige Angina nach der anderen. Immer, wenn mich mein Bruder  besuchen kam, (er war inzwischen Gafir [Hilfspolizist] und im nahe gelegenen Akko stationiert), war ich krank. Natürlich berichtete er es gleich zu Hause, und die armen Eltern waren noch unglücklicher. Aber ich hatte noch immer Spaß an meinem Pionierleben und das Bewusstsein, etwas Nützliches zu tun, gab mir Befriedigung. Wir waren nur 15 Jugendliche, und das war zu wenig, um einen Garin - einen Grundstock für eine neue Kwutzah - zu bilden. So gingen wir auf die Suche nach einer zu uns passenden Gruppe. Ein Junge und ich gingen auf "Brautschau"!
Wir fanden  eine Gruppe aus Deutschland. Außer mir, waren in meiner Gruppe lauter Sabres, aber es ging gut. Sie kamen, 14 an der Zahl, zu uns nach Ramat-David, und wir hofften, eine neue Siedlung am Golf von Akkaba zu starten. Das war aber nur eine Utopie. Ich wollte nicht nur "Frauenarbeit" machen im Kleidermagazin und bei den Kindern und ging in den Schafstall, wo gerade die jungen Lämmer zur Welt kamen. Ich lernte melken und Schafskäse machen, der dann an die Genossenschaft abgeliefert wurde. Es war eine verantwortliche Arbeit mit nur einem Fehler; ich musste um 4 Uhr Früh aufstehen! Das Gute war, ich konnte mir meine Arbeitszeit einteilen. So hatte ich Zeit zum Lesen, Spazieren u.s.w, außerdem waren wir in der Hagana engagiert, das war die illegale jüdische Armee, und nachdem ich zwei Kurse absolviert hatte,  wurde ich Befehlshaber einer Gruppe von zehn Mädchen. Wir übten mit alten italienischen Gewehren, Handgranaten und Pistolen. Juden war es unter Todesstrafe verboten, Waffen zu besitzen. Einmal erwischte mich fast ein Engländer, als ich mit dem Gewehr von den Übungen kam. Ich stellte die Waffe weg, lächelte ihn an, und nichts geschah! Nur mein Herz blieb für einen Augenblick stehen!

Am 5. Jänner 1942 war mein 16. Geburtstag. Ich war ganz allein auf dem Feld und sollte Rüben ausreißen, der ganze Emek Jezreel lag vor mir. Ich sang aus voller Lunge gegen den Wind, als ein Chaver angeritten kam und sagte, ich hätte Besuch. Ich war sehr verwundert, denn bis dahin kam mich außer meinem Bruder niemand besuchen. Ich stieg also auf das Maultier, kam zum Speisesaal und guckte hinein. Dort saß meine Mutter im Persianer Mantel mit Hut und Schleier!!

Ich war sehr gerührt. Ich machte mich so gut es ging zurecht, mit meinen geflickten Arbeitskleidern und zerzausten Haaren ging ich fröhlich hinein. Zu meiner Verwunderung hatte meine Mutter Tränen in den Augen! Ich wollte ihr unbedingt zeigen, wie gut es mir geht, reichte ihr ein Messer ganz für sie alleine und erbat mir zwei extra Teller und sogar als Nachtisch die Vegetarier Speise. Aber meine Mutter war nicht beeindruckt. Am Nachmittag fuhren wir in die nächste Stadt, Afulah. Das war auch ein Flop, da die Stadt nur aus einer Straße bestand. Also besprachen wir, uns am nächsten Tag in Haifa zu treffen. Ich machte Nachtdienst, damit ich den ganzen Tag mit meiner Mutter zusammen bleiben konnte und fuhr mit dem Milchwagen nach Haifa. Ich kam mir den ganzen Tag vor, wie Alice im Wunderland! Auf die Idee, nach Hause zurückzugehen, wäre ich nicht gekommen. Ich war trotz allem sehr glücklich, und auch heute bin ich froh, dieses Jahr im Kibbuz erlebt zu haben!
Es kam der wunderschöne Frühling. Das ganze Tal war ein großer Blumengarten. Wir machten viele Ausflüge, und so lernte ich einen großen Teil des Landes kennen und lieben. Doch in unserer Gruppe kriselte es. Langsam verließ einer nach dem anderen aus verschiedenen Gründen die Kwutzah.

Als der Sommer kam, fuhren die meisten auf Urlaub nach Hause, und ich wusste, die meisten würden auch dort bleiben. Auch mir ging es nicht besser, und als meine Eltern mir versprachen, ich könnte nach Jerusalem auf die Bezalel Schule  -eine Kunstakademie - gehen, war mein Traum des Kibbuzlebens aus. Aus dem Plan die Bezalel Schule zu besuchen, wurde nichts. Es war zu teuer, und wahrscheinlich hätte ich auch nicht genug Talent gehabt, so blieb ich in Ramat-Gan, ging wieder zu einer Schneiderin arbeiten. Es war vielleicht die traurigste Zeit in meinem Leben! Mein Ideal war weg, ich hatte keine Freunde und keine Gesellschaft und war irgendwie aus meinem Weg herausgeschleudert.

Ich übernahm meine Pflichten in der Hagana, denn der Krieg gegen die Nazis ging zu Ende, aber der Krieg gegen die Engländer spitzte sich zu. Denn nun hieß es für ein eigenes Land in Palästina zu kämpfen! Ich nahm wieder meine Freundschaft mit Ruth Ehrlich auf, und mein Bruder erbarmte sich meiner, damit ich nicht immer alleine zu Hause säße und stellte mir seinen neuen Freund vor. Er hieß Robert Meir Landesmann [geboren am 15.05.1920 in Wien]. Man nannte ihn Bobby. Er war mit einem illegalen Transport nach Palästina gekommen.
Unser erstes Treffen war an einem Samstag, anschließend an die wöchentlichen Militärübungen der Hagana. Ich sollte mich mit meinem Bruder und seinem neuen Freund beim Jarkon treffen. Der Jarkon war der einzige Fluss in unserer Gegend, man konnte dort Boote mieten und bis Tel-Aviv rudern. Es war eine beliebte Samstagsbeschäftigung, denn es gab nicht viele Möglichkeiten. Am Samstag, schon am Freitag Abend war alles gesperrt, auch gab es keine Autobusse, und Privatautos hatten nur ganz Wenige, jedenfalls niemand in unserem Bekanntenkreis.  Ich kam also zu unserem Treffpunkt am Jarkon in meiner Khakimontur und etwas schmutzig von den militärischen Übungen, aber die zwei Herren waren nicht da! Ich setzte mich in den Sand und wartete, und wartete... Nach einer geraumen Zeit kamen Kurt und Bobby . Sie waren schon ohne mich rudern gegangen! Ich war wütend! Am Nachhauseweg frotzelte mich der Neue auch noch, warum ich so komisch am Schabbat angezogen sei, und überhaupt, warum ich zu spät kam!! Ich besaß damals auch noch keine Uhr! Ich war also gar nicht begeistert von diesem städtischen Parasiten, der nicht das geringste für das Wohl des Landes und zum Ende des Krieges beitrug!
Einige Wochen später war ein Appell aller Hagana Offiziere. Wir standen stramm, und die Offiziere gingen an uns vorbei, und siehe da, einer davon war - Bobby! Er war doch nicht ein solcher Parasit, wie ich dachte!

Kurt lud seine Freunde immer am Freitag Abend ein, und ich sollte die Hausfrau spielen, da die Eltern meistens Freitag zu Freunden in Ramat-Gan gingen. Mutter bereitete Vanillekipferl, und ich sollte Tee oder Kakao kochen. Die Burschen saßen jeder in einer Ecke und prüften einander aus dem Lexikon. Bobby wusste am meisten, und das imponierte mir sehr! Später gefiel mir an ihm, dass er mich nicht nur als "Kumpel" behandelte, so wie es alle meine Freunde bis dahin machten, sondern als junge Dame! Das hatte bis jetzt niemand getan! Er half mir aus dem Autobus, er öffnete die Türe und ließ mich vorgehen u.s.w.
Oft gingen wir Samstag Nachmittag zu viert tanzen. Kurt, Bobby, Ruth und ich. Außer Volkstänze konnte ich aber keine Tänze, so lernte ich von Bobby Tango, Walzer u.s.w. Ich glaube, ich ging auch das erste Mal mit ihm ins Kino. Die Ruth lernte inzwischen ihren zukünftigen Mann kennen und verließ unseren Kreis.
Kurt hatte kurz nach Kriegsschluss, die Möglichkeit nach Leeds in England studieren zu gehen, und Bobby fuhr nach Abbadan zur Anglo-Iranian Oil Company, um gutes Geld zu verdienen, denn sein Wunsch war es, seine Eltern, die nach Brasilien emigrieren konnten, wieder zu sehen! So blieb ich wieder alleine ohne Gesellschaft. Meine alten Freunde aus der Jugendorganisation schlossen sich inzwischen der Kommunistischen Jugend an, denn in diesen schweren Zeiten sahen wir in den Russen, also in den Kommunisten, die Rettung vor den Nazis. Als dann im Jahre 1941 die zweite Front eröffnet wurde, um die Alliierten zu entlasten, waren die Russen als große Retter angesehen! So kam es, dass die meiste Jugend, die sowieso sozialistisch war, zum Kommunismus wechselte. Meine früheren Freunde nahmen Kontakt mit mir auf, und ich folgte ihnen in den Komsomol. Dort öffnete sich mir eine neue Welt. Ich traf mit Jugendlichen aus wirklichen Arbeiterfamilien zusammen und kam, als ich die kommunistische Zeitung verteilte, in die tiefsten "Slums" von Tel-Aviv, die ich nie gesehen hatte. Die meisten meiner neuen Freunde waren aus sefardischen Familien, aus Syrien und Marokko.

Das Jahr 1944 kam, die Amerikaner griffen endlich in das Kriegsgeschehen ein, und man sah einen Hoffnungsschimmer aufkommen. Und wirklich wendete sich das Kriegsgeschick nach der Landung in der Normandie, man hoffte wieder auf Frieden! In Palästina herrschte nicht wirklich Mangel an  Lebensmitteln, es gab zwar keinen Reis, keinen Kakao und keinen weißen Zucker, aber ohne diesen konnte man leben! Doch mit Ende des Krieges kamen auch die ersten Nachrichten aus Europa! Die ganzen Jahre hatten wir keinen Kontakt mit unseren Familienmitgliedern, die in Europa geblieben waren, und nun sickerten Nachrichten durch, die wir nicht glauben, nicht fassen konnten! Es war die Rede von Konzentrationslagern, von Transporten in Viehwaggons und von GAS!! Langsam kamen Listen von Überlebenden, die sich an das Rote Kreuz in Genf wandten und ihre Verwandten oder  Freunde suchten. Man hörte im Radio lange Namenslisten, und man las die Verzeichnisse des Roten Kreuzes, in der Hoffnung , einen bekannten Namen zu finden. Von den 40 Familien angehörigen, die wir in Europa hinterließen, war keiner dabei.

Am "D-day" Mai 1945, marschierte ich mit der Roten Fahne durch Tel Aviv und jubilierte mit tausenden Anderen, der Krieg in Europa war vorbei! Es war August, ich fuhr mit meinen Eltern nach Naharia auf Urlaub. Um meinen Urlaub noch zu verlängern, blieb ich als Stubenmädchen und Serviererin in der Pension und hatte dafür Kost und Quartier. Da kam die nächste schreckliche Nachricht. Die Atombombe auf  Hiroshima. Obwohl die Japaner auch unsere Feinde waren, konnte man sich eine solche Massenvernichtung gar nicht vorstellen.

Nach dem Krieg

Der Weltkrieg war aus, doch wir wussten, nun würden uns in Palästina neue Kämpfe erwarten. Ich arbeitete in einem Modesalon, war tätig in der Hagana und in der Kommunistischen Jugend, war 18 und hatte jede Menge Verehrer, von denen ich keinen ernst nahm. Ich hatte meine Zeit gut eingeteilt, ich lernte nach der Arbeit malen im Studio Avni und Englisch im British Institute. Am Abend ging ich immer mit einem andern aus. Eines Abends hing an unserer Tür ein Zettel: „Bin zurück und würde dich gerne sehen, Bobby!“. Ich rührte mich nicht mehr von zu Hause, damit ich IHN nicht verpasse - Telefon hatten wir noch lange nicht! Noch am selben Abend meldete er sich noch mal, und wir verabredeten uns. Kurt war noch in England, und Ruth war verlobt, so gingen wir zwei alleine aus - immer häufiger. Wir gingen viel tanzen und ins Kino, oft holte er mich aus dem Studio ab: "Lass das Malen, gehen wir ins Kino.". Deswegen ist aus mir keine wirkliche Künstlerin geworden! Dann lud er mich zum ersten Ball ein! War das eine Aufregung.
An meinem 20. Geburtstag fuhren wir im Bus nach Tel-Aviv, und mitten in dem Gedränge sagte Bobby: "Es passt mir nicht, dass du jeden Tag mit wem Anderen ausgehst, und auch dein kommunistischer Umgang gefällt mir nicht, denn ICH werde dich heiraten.“. Ich musste lachen und erzählte es dann meiner Mutter als Witz! Was der Landesmann sich doch einbildet! Die Mama sagte: „Mach gleich Schluss, er ist doch ein netter Kerl, und du sollst ihn nicht verletzen.“

Mein Vater war zu dieser Zeit in England bei Kurt und fuhr anschließend nach Brünn, um etwas über unsere Familie zu erfahren. In Manchester traf er die einzige überlebende Verwandte meiner Mutter. In Brünn kam er gerade zum Begräbnis von Ruth Sonnenfelds Mutter an, die zwar das Lager überlebt hatte, doch mit den veränderten Verhältnissen nicht zurecht kam. Es war ihr siebter Selbstmordversuch gewesen. Sie hatte sich nicht einmal daran erinnert, dass sie noch Zwillinge in Palästina hatte. Mein Vater fand zwei seiner Schwestern, die überlebten, weil sie mit Nichtjuden verheiratet waren, und hörte, dass meine Cousine Else den Krieg in Ungarn mit falschen arischen Papieren überlebt hatte. Sie gebar mitten im Krieg zwei Kinder, Judith und Thomas (weil er an Massaryks Geburtstag geboren wurde).

Inzwischen überdachte ich meine Gefühle zu Bobby und sah, dass es doch nicht bloße Freundschaft war. Wir entschlossen uns also die Rückkehr meines Vaters abzuwarten, um uns mit seiner Einwilligung zu verloben. Bobby sollte zu seinen Eltern nach Brasilien fahren, und nach seiner Rückkehr konnten wir eventuell heiraten. Mein Vater war gar nicht über unsere Pläne überrascht, er hatte größtes Vertrauen in Bobby und war bereit mich ihm anzuvertrauen! So feierten wir am 8. Juni 1946 im kleinen Familienkreis unsere Verlobung. Bobby hatte schon alle seine Papiere für seine Brasilienreise beieinander, da fiel ihm ein, dass er nicht bereit war, so lange von mir fern zu bleiben und meinte, wir sollten gleich heiraten und gemeinsam zu seinen Eltern fahren!.

Wir vereinbarten den 8. Oktober als Hochzeitsdatum. Mein Vater wollte unbedingt eine große Hochzeit. Wir hatten an die 200 Gäste. Die Chupah war in einem Orangenhain, und die Tische waren zu einem großen Mahl gedeckt, für damalige Verhältnisse einmalig. Am Morgen meines Hochzeitstages erwachte ich mit Halsweh und Fieber und behauptete, ich könne unmöglich heiraten!
Ich zog mein Brautkleid und Schleier an, und unter der Chupah hat sich dann auch Bobby verhaspelt und anstatt des traditionellen Spruches "harei at mekudeschet" sagte er "mechudeschet“ das heißt anstatt „und so bist Du mir geheiligt“, „und so bist du mir erneuert“, natürlich musste ich schrecklich lachen, und Bobby hat sich schnell verbessert. Zu der Zeit gab es oft "Ozer" das heißt Ausgehverbot für alle Juden. Wir  verließen also die Hochzeitsgesellschaft, um nach Tel-Aviv in das elegante Hotel Dan zu fahren . Im Zimmer war ein herrlicher Strauß roter Rosen für Frau Landesmann, und ich war sehr erstaunt, dass Bobbys Mutter auch da war!! Ich habe nicht realisiert, dass ICH nun Frau Landesmann war. Mir war elend, und am nächsten Tag brachte mich Bobby wieder zu meinen Eltern. Ich hatte fast 40 Grad  Fieber!

Als meine Grippe vorüber war, fingen wir an, meine Papiere für die Fahrt nach Brasilien vorzubereiten. Ich brauchte einen tschechischen Pass, den ich nur in Beirut bekommen konnte. Wir fuhren also per Taxi über die libanesische Grenze, wohnten in der Pension Paprika in Beirut. Nach einigen Tagen und viel Überredungskunst bekam ich einen tschechischen Pass und auch ein brasilianisches Visum. Zurück nach Palästina, Koffer packen. Am 2. November ging es per Schiff nach Marseille, wo ich auch meinen Bruder, der auf der Rückreise von England war, treffen sollte. Wir kamen spät abends an. Alles war dunkel und armselig. Wir hatten kein Hotel gebucht, nahmen ein Taxi und gingen auf Suche. Das war nicht einfach, denn die wenigen Hotels, die noch funktionierten, waren von den Besatzungsmächten beschlagnahmt! Nach langer Irrfahrt brachte uns der Taxler in eine obskure Gegend. Als wir unsere Koffer abluden, sagte der Portier, Gäste mit Gepäck nehme er gar nicht! Aber vielleicht auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Dort wurden wir auch aufgenommen, es war inzwischen weit nach Mitternacht. Endlich im armseligen Zimmer, sagte Bobby: „Das ist ein Stundenhotel.“ Ich aber wusste nicht, was das bedeutet. Da ich sehr müde war, bat ich ihn, doch gleich für die ganze Nacht zu bezahlen, sonst würden die doch stündlich kommen, und Geld verlangen!  

Nächsten Morgen habe ich nach einem Badezimmer gefragt. Erstaunt schickte man mich quer über die Straße und zwei Ecken weiter! Da merkte ich, wie verwöhnt ich all die Zeit gewesen war!

Wir trafen Kurt, der ein schönes Hotelzimmer hatte, und es gab auch normales Essen für englische Pfund! Am Abend fuhren Bobby und ich nach Paris und vereinbarten auch dort einen Treffpunkt mit Kurt zum Mittagessen. Es war das erste Mal, dass ich wieder eine Dämmerung erlebte, denn in Israel geht die Sonne binnen einiger Minuten unter. Wir standen also am Zugfenster und beobachteten die herbstliche Dämmerung, es war sehr romantisch!

In Paris hatten wir - dank unserer englischen Pfunde - ein schönes Hotel und fanden auch ein Restaurant, wo man ohne Lebensmittelkarten essen konnte. Wir erlebten einen richtigen "Honeymoon" in Paris.

Nach einigen Tagen ging es weiter nach Rio. Es war eine wunderschöne Reise auf einem Luxusdampfer, die 16 Tage dauerte. In Rio erwarteten uns meine Schwiegereltern. Die "Murli" war gleich sehr lieb zu mir, doch der Papa war so ganz anders als mein Vater! Er schrie oft herum und mischte sich in alles in der Küche! Später sah ich, dass das alle Landesmänner tun! Ansonsten verwöhnte man mich, und ich wurde sogar bei dem reichen Teil der Familie eingeführt. Da gab es den Onkel Max, der Reiche, er war Miteigentümer eines Chainetores, "Logas Americanas“ und unterstützte die Eltern. Er lebte mit einer netten Portugiesin, Irene, hatte eine Tochter aus erster Ehe, Netty, eine Prinzessin, die mit goldenem Löffel im Mund zur Welt gekommen war. Im Hause von Max lebte auch seine ältere Schwester Arabella. Sie hatte noch vor dem ersten Weltkrieg einen deutschen Nichtjuden geheiratet und wurde deswegen von ihrem Vater verstoßen. Nach dem Tod ihres Mannes kam sie auch nach Brasilien. Sie führte Max den Haushalt, war also auch von ihm abhängig. Wegen ihrer herrischen Art hatten alle anderen Mitglieder der Familie vor ihr Angst, inklusive meiner Schwiegermutter. Dann gab es die älteste Schwester Valerie. Die war ein Kapitel für sich! Sie kam als erste nach Brasilien, gleich nach dem ersten Weltkrieg. Als Gouvernante bei einem Diplomaten. Später ließ sie ihre Brüder Max und Heinrich nachkommen. Diese Geschwister ließen sich taufen, da es für ihr weiteres Leben leichter war. Die in Europa lebenden Landesmanns blieben natürlich Juden. Arthur, mein Schwiegervater, lebte in Wien, Leopold, sein ältester Bruder, lebte in Bratislava. Als Hitler in Österreich einmarschierte, kam mein Schwiegervater sofort als Monarchist nach Dachau. Damals war es lebensrettend, im Ausland Familie zu haben. Max schickte die nötigen Papiere, und so kamen Bobbys Eltern nach Brasilien, auch Onkel Poldi (Leopold) mit Frau und Sohn. Eine ihrer Töchter wurden im KZ ermordet Die andere, Manzi, kam nach Palästina und später auch nach Sao Paulo, wo der Onkel eine ungarische Bücherei hatte. Das war also meine neue Familie, die ich kennen lernte, aber die mir immer fremd blieb. Lauter hoch intelligente, bisschen verrückte Individualisten.

Wir wohnten also bei den Schwiegereltern. Es ging uns gut. Bobby versuchte sich, eine Existenz zu schaffen, aber ich war nicht glücklich. Ich hatte Heimweh nach dem im Werden begriffenen Israel, nach meinen Eltern und nach meinen Freunden. Die Lage in Palästina spitzte sich zu. Es gab immer mehr Kämpfe gegen die Engländer. Und wieder kämpften die Juden ums Überleben. Diesmal um die Errichtung ihres eigenen Staates! Und ich saß in Brasilien!! Auch Erich, Bobbys Bruder, kam inzwischen nach Rio und bemühte sich seine Braut Lilly, aus Palästina nachkommen zu lassen.

Es wurde Mai 1947, und wir beschlossen, doch wieder nach Palästina zu gehen. Wir fuhren auf einem Frachtschiff, da man uns einredete, dass das noch komfortabler wäre! Es war ein Abenteuer! Wir waren  nur acht Passagiere. Wir aßen einen Ochsen von den Hörnern bis zum Schweif, es gab keinen Aufenthaltsraum oder irgendeine Abwechslung. Die Reise auf offener See dauert 21 Tage. Als wir endlich in Le Havre ankamen, merkten wir, dass wir auch zwei Särge mitführten: Jüdische Emigranten, die in Brasilien gestorben waren und in Frankreich beerdigt werden wollten.

Wir fuhren wieder nach Paris, dort hat sich die Lage etwas gebessert. Wir besuchten die bekannten schönen Plätze, das Folie Bergère, die Comedie Francaise, das Louvre, usw. Eines abends bekamen wir einen Anruf von Heini, dem Gatten meiner Cousine Else, der uns erzählte, dass sie mit ihren zwei Kindern in Teplitz leben und wir sie doch besuchen sollen. In Paris gab es zu der Zeit schon genügend Lebensmittel, aber nur am Schwarzmarkt, Heini bat uns, für seine Kinder Schokolade und Bananen mitzubringen, denn das hatten sie noch nie gesehen! Warum auch nicht. Wir verschafften uns Flugkarten und wurden von Heini mit einem klapprigen Auto vom Flughafen in Prag abgeholt.

Wir gingen kurz am Wenzelsplatz spazieren und wurden auch prompt angestänkert, weil wir deutsch sprachen. Es wurden in den Geschäften auch verschiedene Delikatessen angeboten, die ich schon jahrelang nicht mehr gesehen hatte, z.B. Hering in Aspik. Wir konnten welche kaufen, doch für Brot sollten wir Lebensmittelkarten abgeben, die wir natürlich nicht hatten. In Teplitz kamen wir in Elses Haus, einer schönen Villa, die bis 1939 einem Juden gehört hatte, dann von den Nazis beschlagnahmt worden war, und zu guter Letzt von Heini, der sich zur sowjetischen Front durchgekämpft hatte und als russischer Soldat zurückgekommen ist.

In Teplitz hatten sich wieder einige Juden niedergelassen, und alle besuchten uns, um Auskunft über Palästina zu bekommen. Denn sie wussten, dass sie in diesem Land nicht lange bleiben werden. Da wir nun schon in der Tschechoslowakei waren, fuhren wir auch nach Brünn, denn ich wusste, dass zwei meiner Tanten, die mit Nichtjuden verheiratet waren, den Krieg überlebt hatten. Mit Herzklopfen lief ich die Treppe zu meiner Lieblingstante hinauf, wir umarmten und küssten uns, weinten und lachten! Ich traf auch zwei meiner Mitschüler (aus einer Klasse von 32), die nach Brünn zurückgekommen waren. Die Stadt war sehr zerstört, viele leere Plätze, wo früher Häuser standen, und ich erinnerte mich immer wieder ....da wohnte...da lebte... Ich hatte eine Adresse eines Untermieters meiner Tante Rosa, der Schwester meiner Mutter, zu dem ich ging, um zu fragen, was mit meiner Familie geschehen war. Als ich seine Wohnung betrat, sah ich als erstes einen Teppich, den meine Mutter geknüpft hatte. Das Zimmer, in das er mich führte, war zur Gänze mit Möbel meiner Tante möbliert. Er bat mich, Platz zu nehmen und kam nach einer Weile mit einem fest verschlossenem Topf, den wir gemeinsam öffneten. Er hatte diesen Topf die ganzen Jahre unter den Kohlen versteckt gehabt, zusammen mit einer silbernen Zigarettendose, die bei uns immer auf dem Tisch gestanden war. Im Topf waren Liebesbriefe meines Großvaters an meine Großmutter und Gedichte, die er für sie geschrieben hatte. Leider habe ich diese nicht mitgenommen, da ich annahm, dass sich meine Mutter zu viel aufregen würde, und das wollte ich ihr ersparen. In der Zigarettendose waren verschiedene Schmuckstücke meiner Großmutter, Tanten und sogar mein kleiner Ring, der mir bei unserer Ausreise abgenommen worden war! Der Mann erzählte mir, dass er meinen Großeltern geholfen hatte einzupacken, als man sie angeblich in ein Altersheim verschickte. Sie wurden in Autobusse verfrachtet, die nirgends ankamen. Die Abgase wurden einfach in das Innere des Busses geleitet! Von den anderen Familienmitgliedern wusste er nur, dass sie verschickt wurden, wie alle Juden Brünns. Nur wenige kamen zurück. Es war ein trauriger Aufenthalt. Es gab damals einen Bus von Brünn nach Wien, und ich fragte Bobby, ob er nicht Wien wieder sehen möchte; er aber sagte, Wien sehe ihn nie wieder! (Wie wir uns irrten!)
Unsere Rückreise nach Paris traten wir in versiegelten Luxuswaggons quer durch das zerbombte und zerstörte Deutschland an. In Palästina kamen wir irgendwann im Juni an. Meine Eltern erwarteten uns am Pier, ich war glücklich, ich war wieder zu Hause!

Das war im Juni 1947. Der Kampf um die Selbständigkeit Israels war im vollem Gange, und natürlich nahmen Bobby und ich unsere Aktivität in der Hagana [der geheimen jüdischen Armee] wieder auf. Wir wohnten in Untermiete bei meinem Onkel Alfred, der im Krieg mit der "Patria" nach Palästina kam. Die Patria war ein illegales Einwanderer Schiff, dass schon im englischen Hoheitsgebiet von den Engländern aufgebracht und in den Hafen von Haifa dirigiert worden war, um von dort wieder in die Hölle Europas zurückgesandt zu werden! Das wäre natürlich ein Todesurteil für alle Passagiere gewesen, und so beschloss die Hagana, das Schiff in die Luft zu sprengen, denn als Schiffbrüchige müsste man sie aufnehmen! Leider kamen bei der Explosion , die zu stark ausgefallen war, viele Menschen ums Leben. Diejenigen, die sich retten konnten, wurden in das Lager in Athlit gebracht, wo sie ca. ein Jahr verbringen mussten. Mein Onkel war also unter den Überlebenden.  Er war ohne seiner Familie auf dem Schiff, denn seine Frau und sein 10-jähriger Sohn wollten die Strapazen einer illegalen Auswanderung nicht auf sich nehmen. Wie wir später erfuhren, wurden sie in Auschwitz ermordet!

Als ich das erste Mal eine Gruppe nach Auschwitz begleitet habe, ging ich in den tschechischen Pavillon. Da lag ein aufgeschlagenes Buch, und auf dieser Seite waren die Geschehnisse eines Tages registriert . Es waren an jenem Tag so und so viele Menschen angekommen, alle mit Namen registriert, darunter so viele Kinder; und da war auch der Name meines Cousins Wilhelm Stiassny, mit dem Vermerk, dass er noch am selben Tag in die Gaskammer geschickt wurde, denn er war erst 11 Jahre, zu klein um als Arbeitskraft am Leben zu bleiben.

Mein Onkel heiratete später eine jüngere Frau und wohnte in einem kleinen Häuschen in Ramat-Gan, wo auch wir eine Zeitlang wohnten. Bobby arbeitete in einem Versicherungsbüro, und ich hatte nur den Haushalt zu versorgen, was mich natürlich nicht sehr ausfüllte.
Im November war die Abstimmung in der UNO über die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina. Wir alle saßen an diesem Abend an den Radioapparaten und zählten mit klopfenden Herzen jede Stimme, die „JA“ sagte. Als das Resultat „positiv“ verkündet wurde, stürzten alle aus den Häusern. Man tanzte auf der Gasse, die Gastwirte schenkten gratis Getränke aus, und Mütter kamen mit Selbstgebackenem aus den Wohnungen, und alle jubelten!

Am nächsten Tag fing die Rekrutierung an. Wir wussten, ohne Kampf würde uns nichts geschenkt werden.  Ich arbeitete eine Zeit lang im Rekrutierungsbüro in Ramat-Gan. Bobby war „in charge“ für die noch geheime Kartei der Hagana in unserem Gebiet. Die Listen waren in Schuhschachteln in unserem Bett versteckt! Es meldeten sich alle jungen und nicht so jungen Burschen und Mädchen, und als dann der 15. Mai kam, der Tag der offiziellen  Deklaration des Judenstaates, hatten wir eine wirkliche Armee! Ich ging nahtlos zur regulären Armee , mit unserer Kartei unterm Arm, direkt ins Hauptquartier, das sich auch in Ramat-Gan befand. Am 14. Mai 1948 feierten wir Bobbys Geburtstag und die Geburt unseres Staates.

Am 15. morgens hörten wir Flugzeuggeräusch, wir liefen auf das Dach, um besser zu sehen. "Unsere Flieger!!!", dachten wir, aber es waren schon die Araber. Sie kamen im Tiefflug mit ratternden Maschinengewehren. Wir bekamen einige Einschüsse direkt hinter uns in die Wand! So fing also unser junger Staat an. Es waren viele ungleiche Kämpfe, denn die Engländer hinterließen ihre Munitionslager zum großen Teil den Arabern, wohingegen die Juden bis zum letzten Augenblick die Waffen auf illegalem Wegen kaufen mussten. Ich arbeitete also im Hauptquartier "Matkal" und musste herausfinden, who’s who in unserer neuen Armee, denn die meisten späteren Offiziere hatten in der Hagana zwei bis drei falsche Namen und Adressen. Langsam kam in dieses Chaos Ordnung. Wir bekamen Lohnbücher, wo Rang und Name eingetragen waren und sogar Gehalt. Ich saß im Büro, obwohl ich Büroarbeit haßte, mit allen hohen Offizieren und späteren Generalstabschefs gemeinsam. Auch Ben Gurions Büro war gleich nebenan.

In der Zwischenzeit merkte ich, dass ich schwanger bin! Wir haben uns sehr gefreut, und ich bemühte mich, eine Befreiung vom Militärdienst zu bekommen! Als ich aber mit meinem vorgesetzten Offizier sprach, lachte er nur und sagte, heute komme man nur weg vom Militär, wenn man mit dem Kopf unter dem Arm daher käme! Es tobten die schwersten Kämpfe, und es ging um die Existenz des neuen Staates. Ich blieb also bis zum achten Monat meiner Schwangerschaft, nahm 16 Kilo zu und war breiter als länger. Ich litt sehr unter Übelkeit, und die Küchengerüche waren fürchterlich! Drei bis vier Mal lief ich durch den langen Korridor bis zum Parkplatz und dort bis zu Ben-Gurions Auto. Der Fahrer war nicht glücklich! Wenn mir besonders schlecht war, trank ich in der Kantine einen Wermut. Meine Offiziere hatten schon den Verdacht, ich sei Alkoholikerin. Ende Februar fuhr ich kurz entschlossen nach Tel-Haschomer, wo das Personalbüro war, und erklärte dort, dass ich in meinem Zustand eine Schande für die junge Armee wäre. Irgendjemand hat das eingesehen. Es gab noch keine Entlassungsmodalitäten, und so gab ich nur meine Schuhe und den Stahlhelm ab, und war wieder Zivilperson. Noch im letzten Moment, denn 14 Tage drauf, am im Jahre 1949, kam Uriel zur Welt. Den Namen haben wir einem Gedicht der Dichterin Rahel entnommen: Hätte ich ein Kind, einen kleinen Sohn , würde ich ihn URI nennen, ich würde seine kleine Hand in meiner halten, durch den Garten gehen und ihn URI rufen....

Wie es sich gehört, haben wir am achten Tag den Brith gefeiert. Es kamen alle Offiziere des Hauptquartiers und sogar mein Bruder aus dem belagerten Jerusalem. Es gab keinen Zucker und kein Mehl, aber zu diesem Anlass bekam man Sonderrationen. Nach der Beschneidung brachte man mir das Kind, er hatte das Kapperl schief an, darauf einen Weinfleck und Schluckauf. Der kleine Mann hatte einen Schwips!! Nächsten Tag ging ich mit dem neuen Israeli nach Hause und zeigte ihm von unserem Hochsitz ganz Ramat-Gan. Wir wohnten im höchst gelegenen Haus von Ramat-Gan.

Erich, Bobbys Bruder, kam auch aus Brasilien zurück, da es ihm nicht gelungen war, eine Einreisegenehmigung für Lilly zu bekommen. Sie heirateten in Haifa und wohnten auch in Ramat-Gan. Meine Eltern übersiedelten inzwischen in ihr neues Haus, doch leider hatte mein Vater kurz darauf seinen ersten Herzinfarkt. Alle jungen Leute waren noch beim Militär, aber G’tt sei Dank ist bald darauf ein Waffenstillstand vereinbart worden, und man musste nicht jeden Tag neue Tote beweinen. Wir weinten buchstäblich mit jedem Nachbarn und Bekannten um einen Sohn, Bruder oder Vater. Es war eine traurige Zeit. 

Unsere Hausherrn kamen auch wieder aus dem Ausland zurück und beanspruchten die ganze Wohnung für sich. Sie waren auch nicht erfreut über unseren "Zuwachs", denn sie selber hatten keine Kinder. Wir fanden eine kleine Wohnung im selben Haus, in dem ich aufgewachsen war und in dem nun auch meine Cousine Else lebte. Sie gab mir viele Ratschläge, wie ich meinen Minihaushalt mit unserem Minieinkommen führen sollte, und wir wechselten uns auch beim Babysitten ab. Auch Bobby wurde vom Militär entlassen und arbeitete wieder bei der Versicherung als Schadensexperte. Mein Bruder arbeitete bei Argaman, derselben Textilfirma, wo auch mein Vater Direktor war. Wir hatten viele Freunde in unserm Alter und gingen oft tanzen. Am Nachmittag nahmen wir natürlich auch unser Baby mit, und zwischen den Tänzen stillte ich ihn in der Garderobe.
Doch Bobby war nicht zufrieden, er wollte mehr für sich und vor allem für seine kleine Familie! So entschloss er sich, nach Wien zu gehen, wo man angeblich schnell Geld machen konnte, um als reicher Mann wiederzukommen. Es war zu Pessach, als der erste Schnee in Israel fiel, das war eine Aufregung!

Von Wien nach Zürich

Als Bobby dann nach Wien fuhr, war es sehr traurig für mich. Nach einigen Monaten schrieb er, ich solle doch nachkommen. Es wird doch nicht so schnell mit dem Reichwerden gehen. Man brauchte eine Ausreisegenehmigung, und das dauerte Monate. So feierte ich Uris ersten Geburtstag alleine. Und gerade als  mein Bruder sich entschloss zu heiraten, da bekam ich endlich die lang erwartete Ausreisegenehmigung! Und so war ich nicht einmal bei seiner Hochzeit.

Am Abend vor unserer Abreise kam noch Tante Hedwig - die Schwester meiner Schwiegermutter und unser treuester Babysitter - zu mir und sagte: "Hoffentlich hast du auch eine Wohnung mit Bad in Wien.". Ich habe bis dahin noch nie gehört, dass es Wohnungen ohne Bad gäbe. Wir fuhren zeitlich in der Früh, und erst jetzt verstehe ich, was es für meine Eltern bedeutete, mich und im besonderen Uri, gehen zu lassen. Der Flug dauerte damals noch acht Stunden.
Wir hatten eine Wohnung im Palais Coburg, sehr feudal aber düster und verstaubt. Wien war noch sehr zerstört und armselig. Leute standen vor den Restaurants und lasen bewundert die Speisekarten. Doch hineingehen konnten es sich die wenigsten leisten. Viele suchten noch nach etwas Brauchbarem im Mistkübel, und man sah viele Kriegsverletzte ohne Arme oder Beine. Es gab auch noch Schwarzmarkt, aber das brauchten wir nicht, denn es gab das meiste schon normal zu kaufen. Ich kam aus einem Land, wo es auch Mangel an Vielem gab, und es war für mich ein Erlebnis, als ich das erste Mal zum Metzger ging und voller stolz ein halbes Kilo Fleisch verlangte! Der aber fragte :"Welche Art von Fleisch?". Was wusste ich! In Israel gab es nur Rind, und da nahm man, was einem zugewiesen wurde.

Bobby war viel unterwegs, denn er arbeitete für eine israelische Firma, für die er Maschinen einkaufen sollte, um einen neuen Betrieb zu errichten. Wenn also das Mädchen Sonntags Ausgang hatte, wusste ich nicht, wie man heizt, und so blieben Uri und ich die längste Zeit im Bett. Ich hatte keine Bekannten in Wien, so war ich sehr einsam. Uri fing an zu plaudern, und ich fürchtete, ich kann nur mehr "Baby talk". Wenn Bobby da war, war alles schön. Wir gingen viel ins Theater und in die Oper, die damals noch im Theater an der Wien spielte, denn das Opernhaus war noch in Trümmern, so wie auch viele andere Gebäude. Am Stephansplatz war ein großer Krater, wo heute das Haashaus steht. Uri sagte immer: "ohjeh paput Aba wird jichten!"

Wir hatten nicht die Absicht, lange in Wien zu leben, so suchten wir wieder nur eine zeitweilige Unterkunft. Und so kam es, dass wir alle paar Monate übersiedelten. Nun kam auch Bobbys Mutter zu Besuch, um ihren ersten Enkelsohn kennen zu lernen. Da es mir vor noch einem Winter in Europa grauste, fuhr ich mit Uri auch wieder nach Israel zu meinen Eltern. Auch die Omi - Bobbys Mutter - war dort, und wir hatten eine sehr schöne Zeit, leider ohne Bobby, der uns doch ernähren musste.
Im Jänner, gerade zu meinem Geburtstag, kam Gaby zur Welt, unsere kleine Nichte. In Brasilien vergrößerte sich die Familie auch. Erich - Roberts Bruder - und Lilly bekamen Eva. Und da wir so fleißig beim Vermehren waren, habe auch ich wieder gemerkt, dass wir ein Kind erwarteten.
Ich fühlte mich sehr wohl, und auch Bobby war sehr glücklich. Er kam uns einige Male besuchen, dann wurde er nach Zürich versetzt. Er arbeitete noch weiter für die israelische Firma Moshe Mayer, und so beschlossen wir, Uri, ich und mein Bauch (wir rechneten sehr mit einem Mädchen, und es sollte Ruthi heißen, wie alle meine Freundinnen), nach Zürich zu gehen.

Zürich war wunderbar, wir wohnten in Albisrieden, einem Vorort am Fuße des Ütlibergs und hatten eine schöne moderne Wohnung und liebe Nachbarn. Ich wollte so gerne mein Kind in der Schweiz zur Welt bringen, doch wieder bekam meine Mutter keine Ausreise. Bobby musste nach Brasilien, und alleine wollte ich nicht da bleiben. Also wieder Koffer packen und eine neue Epoche beginnen. Ich war schon im achten Monat, und die Fluglinie machte Schwierigkeiten, denn sie wollten keine Entbindung während eines Fluges riskieren! Der Flug Zürich-Rio dauerte damals 16 Stunden. Wir machten also Zwischenstation in Rom und Lissabon, und alles ging gut.

Zuerst wohnten wir bei den Schwiegereltern. Diesmal war ich nicht mehr so schockiert von den sozialen Verhältnissen wie das erste Mal, nur die Plage mit den Flöhen war sehr unangenehm.
Jeden Tag ging ich mit Uri auf den schönsten Strand der Welt, Ipanema. Dort lernte ich eine sehr nette Tschechin mit Tochter kennen. So hatte ich auch etwas Ansprache. Ich lud auch die Omi und ihre Freundinnen zum Kaffee ein, doch dazu kam es nicht. Mitten im Kuchenbacken meldete sich die "Ruthi", und Bobby brachte mich ins Spital. Um 9:45 war der kleine Bub da, die Omi lief dem Bobby schon entgegen, als er ihr den Uri brachte und rief: "Du hast einen Buben!". Bobby sagte, „Ich weiß.“ und zeigte auf Uri. "Nein, noch einen!!!", lachte die Omi ! Das war 1952.
Wir sind alle sehr schnell über diese Enttäuschung hinweggekommen, und wenigstens mussten wir nicht umlernen, wie man mit einem Mädchen umgeht! Am achten Tag war wieder die Beschneidung. Aber was für Unterschied! Mit Müh und Not hatten wir zehn Männer zusammen, um ein Minjan zu haben. Die Kuchen und Brötchen musste ich selber machen. Lilly konnte mir nicht helfen, denn Eva hatte die Masern, und Omi war zu aufgeregt.

Aber alles ging gut, und unser kleiner Michael war ein strammer fester Kerl. Die meiste Zeit lag er in seinem Körbchen am Balkon, nur in seine Windel gehüllt, denn es war sehr heiß.

Bobby hörte auf für die Firma Mayer zu arbeiten, denn er dachte, die Geschäfte die er für Herrn Mayer tätigte, könnte er auch für sich selber machen und besser verdienen. Aber das war verfehlt, ohne den guten Namen Mayer wollte niemand mit ihm verhandeln. So versuchte er, einen anderen Job zu landen, und durch einen glücklichen Zufall landete er bei der Panair do Brasil, der damaligen Fluggesellschaft Brasiliens. Die schickte ihn sofort wegen seiner österreichischen Abstammung als Repräsentant nach Wien, um dort ein Büro zu eröffnen. Wir packten also wieder mal die Koffer, sehr zum Leidwesen der Schwiegereltern, denn nachdem sie die ganzen Kriegsjahre ohne Kinder waren, gewöhnten sie sich nun, alle ihre Kinder und Enkelkinder um sich zu haben.

Es war Silvester, als ich mit den Kindern abflog. Es war so kalt, dass meinem kleinen Brasilianer die Speisereste auf der Wange anfroren. Meine Eltern waren überglücklich, uns drei da zu haben und luden alle ihre Freunde ein, um den neuen Enkel zu bewundern. Einige Zeit wohnte ich bei ihnen in ihrem neuen Haus, doch als wir sahen, dass ich länger in Israel bleiben würde, kauften sie mir sogar eine Wohnung, wo ich dann auch sehr glücklich war. Bobby kam nur auf Besuch, und leider entfremdeten sich die Kinder von ihm. Eines Morgens, als Uri den Bobby im Bett sah, fragte er "Und wer ist dieser Onkel?".

Es gelang mir diesmal, Uri in einem Kindergarten unterzubringen bei der "Doda Chaya", und er war sehr glücklich dort. Es war also alles sehr schön, bis darauf, dass Bobby uns sehr fehlte.

Rückkehr nach Wien

Im Sommer 1953 war es dann so weit: Wir konnten nach Wien kommen. Bobby arrangierte eine sehr schöne Wohnung mit Garten im 19. Bezirk (Amalgergasse). Wir hatten nun sehr viele Bekannte in Wien und jeden Samstag und Sonntag hatten wir eine Gästeinvasion.

Während wir in der Amalgergasse wohnten, ging Uri zu einer älteren Dame vis-a-vis zum Spielen. Es waren auch andere Kinder da, die Dame sprach französisch und wurde Madame genannt. Uri nannte sie Batam (ein Iwrith Name). In der Stadt ging Uri in einen Kindergarten, und ich war beschäftigt, ihn zu bringen und abzuholen. Wir hatten wieder ein Mädchen, das auch viele Jahre bei uns blieb und  alle unsere Übersiedlungen brav mitmachte. Bobby war auch weiter viel unterwegs, und die traurige Zeit für mich fing wieder an. Vormittags war ich mit Einkaufen und den Kindern beschäftigt. Der Haushalt nahm viel mehr Zeit in Anspruch als heutzutage. Man hatte noch keine Maschinen, auch die Wäsche musste mit der Hand gewaschen werden. Von Pampers konnte man nur träumen, und so bemühten sich alle Mütter, die Kinder so bald wie möglich auf den Topf zu trainieren. Oft war es so, dass das Kind nur auf den eigenen Topf ging, und so wanderten die Mütter überall hin mit dem Topf "in der Tasche".

An den Nachmittagen lernte ich französisch und besuchte Bastelkurse. Der Sommer kam, so beschlossen wir wieder mal ins Grüne zu ziehen und fanden eine schöne Wohnung in der Lannerstraße. Die Wohnung war groß, wir mussten zwar die Küche noch mit zwei Frauen teilen, die aber sehr nett waren, und alles ging gut. Meine Eltern kamen zu Besuch, und die Kinder freuten sich auch, Großeltern zu haben. Meine Eltern luden mich zu einem richtigen Urlaub in die Schweiz ein. Bobby blieb alleine mit den Kindern und dem Dienstmädchen, und ich wurde verwöhnt, wie noch nie in meinem Leben! Wir machten eine wunderbare Reise durch die Schweiz, stiegen in den besten Hotels ab und genossen alles. Es war gut so, denn es war das letzte Mal, dass ich mit meinem Vater zusammen war. Er starb im darauf folgenden Winter.

Leider mussten wir diese schöne Wohnung aufgeben, denn die Eigentümerin wollte sie verkaufen, wir hatten aber nicht das Geld, außerdem dachten wir noch immer, dass unser Aufenthalt in Wien nur temporär sei. Nun war die Wohnungssuche viel schwieriger, denn den Wienern ging es schon besser, und nicht viele vermieteten ihre Wohnungen, und mit zwei kleinen Buben wollte uns auch niemand. Die Kinderliebe der Wiener hielt sich in Grenzen. Hätte ich zwei Bernhardiner, wäre es leichter gewesen, eine Wohnung zu finden, denn Hunde liebten sie. In meiner Verzweiflung klebte ich Zettel auf die Bäume im Türkenschanzpark. Es meldete sich jemand in der Huleschgasse, ich lief hin, und die Wohnung gefiel mir.

Um Missverständnissen auszuweichen, sagte ich immer gleich, dass ich zwei Buben habe und dass wir Juden sind. Beides wurde hier akzeptiert, und aus unserer Untermiete wurde fast eine Familiengemeinschaft. Herr Pollak war selber Jude, der Dank seiner Frau in Wien überleben konnte und beide wünschten sich Enkerln. So nahmen sie Uri und Micky auf. Auch hier teilten wir Küche und Bad, doch alles funktionierte tadellos.
Uri ging in einen jüdischen Kindergarten, der nicht weit von uns entfernt war.

Im Jänner 1954, gerade an meinem Geburtstag, starb mein Vater ganz plötzlich. Wir erfuhren davon erst drei Tage später, da man ein Telegramm ins Büro schickte und in Wien Feiertag war. Sofort bemühten wir uns, einen Flug nach Israel zu buchen, doch es gab nur zwei Flüge pro Woche. So kam ich erst eine Woche nach der Beerdigung bei meiner Mutter an. Sie erzählten mir: Mein Vater spielte noch am Nachmittag Bridge. Am Abend brachte Kurt die Eltern zu einer Versammlung nach Tel Aviv. Dort traf mein Vater viele Bekannte, plauderte und begrüßte alle. Als dann alle ihre Plätze einnahmen, sagte mein Vater: „Dort winkt mir eine schöne Frau zu.“ und legte den Kopf auf die Schulter seines Freundes, der vor ihm saß. Alle lachten, denn sie glaubten, er mache Spaß, doch meine Mutter sah sein graues Gesicht und rief nach einem Arzt. Man trug ihn mit dem Sessel hinaus - er war bereits tot.

Es war ein Tod, wie er sich ihn immer wünschte: nur nicht krank dahinsiechen. Doch er war erst 64 Jahre, mitten im Leben, und wir alle konnten es nicht fassen. Lange schaute ich zur gewohnten Zeit zur Tür und dachte, jetzt kommt er aus der Arbeit zum Essen. Meine Mutter war unter Schock, und wie auch zur Zeit, als Hitler in der Tschechei einmarschierte, so auch jetzt: Sie verlor die Stimme. Meine Kinder und auch Kurts Kinder halfen ihr, sich ein bisschen abzulenken. Auch Kurt und Gina hatten ein zweites Kind: Gady, der damals drei Monate alt war.

Da Bobby immer unterwegs war, entschlossen wir uns länger bei meiner Mutter zu bleiben und Uri in Ramat-Gan einzuschulen. Er integrierte sich sofort und war glücklich. Um meine Mutter ein bisschen abzulenken, dachten wir, ich würde ihr den Uri dort lassen bis zum Schulschluss und sie käme dann über den Sommer zu uns nach Wien. Uri war auch von der Idee begeistert, denn er liebte seine Safta sehr. Aber nur bei Tag, in der Nacht hatte er Angstträume und rief immer nach mir. So haben Bobby und ich beschlossen, dass auch ich bis zum Sommer in Israel bleiben sollte.

Israel hat sich in der Zeit seit dem Befreiungskrieg entwickelt. Die schweren Zeiten schienen vorbei zu sein. Es kamen viele neue Einwanderer, die man erst in Notquartieren untergebracht hat (Maabarot). Sie bekamen frei Kost und Quartier, also mehr, als die illegalen Einwanderer zur Mandatzeit, waren aber unzufrieden, denn sie sahen, dass es den Alteingesessenen besser ging. Es dauerte eine geraume Zeit, bis sich die "Neuen" einordneten, doch dann kamen wieder andere Neue.

Im  Sommer kam ich also zurück nach Wien. Meine Mutter kam mit uns und wohnte in unserer Nähe in einem möblierten Zimmer. Meine Mutter blieb, bis es ihr zu kalt wurde in Europa, dann fuhr sie zurück nach Ramat-Gan. Mein Bruder baute noch ein Stockwerk auf dem Haus meiner Eltern, denn das war so quasi der letzte Wunsch meines Vaters gewesen. So konnte meine Mutter in ihrem Heim bleiben und war doch nicht allein. Sie bekam nach vielen Verhandlungen eine kleine Pension von der Firma zugesprochen, doch das genügte kaum, so entschloss sie sich einen Teil ihrer Wohnung zu vermieten.

Wir hatten freie Flüge in der ganzen Welt, in den Luxushotels zahlten wir als Angehörige einer Fluglinie nur den halben Preis, so nutzten wir es aus und besuchten die halbe Welt noch bevor das Reisen so alltäglich wurde. Oft begleitete ich Bobby auf seinen Dienstreisen in die kommunistischen Länder.

Unser nächstes Domizil war der Margaretengürtel. Eine moderne Wohnung ganz nach meinem Geschmack, die aber nur teilweise möbliert war. So mussten wir sie einrichten. Wir meinten noch immer, dass wir nicht lange in Wien bleiben würden und kauften nur einfache billige Möbel. Zum Teil haben wir sie noch heute!

In dieser Zeit fuhr ich das zweite Mal wieder nach Brünn. Ich war sehr aufgeregt, meine Tanten, die Schwestern meines Vaters, und meine Cousinen wieder zu sehen. Auch einen alten Freund – Robert –  von dem wir erst spät erfahren hatten, dass er überlebt  hatte, (er hatte seinen Namen von Deutsch auf Dvorsky geändert) traf ich wieder. Robert ist als Kind mit uns aufgewachsen, denn sein Vater starb, als Robert acht Jahre war, und er war für mich wie ein Bruder! Von da an versuchte ich, den Kontakt mit dem kleinen Rest unserer Familie zu halten. Von Seiten meiner Mutter gab es bis auf eine Cousine zweiten Grades (sie lebt heute in Benidorm, Spanien, Margit Cohn, geborene Strauß), keine Überlebenden.

Bobby hatte viel Erfolg in  seinem Beruf, hatte ein schönes Büro im Kärntnerringhof, und wir hatten viele ausländische Gäste, die man in der Stadt ausführen musste und auch am Abend unterhalten sollte. Damals war das Fliegen noch eine elitäre Sache, und jeder Passagier war quasi ein privater Gast vom Herrn Direktor, also von Bobby. Wir nutzten auch unsere Freiflüge aus und besuchten die entferntesten Länder. Meistens im Winter, denn da war keine Saison für Bobby Wir waren in Kenia, in Äthiopien, in Japan und Bangkok zu einer Zeit, da die Meisten diese Länder nur aus Büchern kannten. Wegen Bobbys Stellung hatten wir fast immer erste Klasse Flüge, und in den Luxushotels zahlten wir die Hälfte. Nur hatte Bobby nicht so viel Freizeit, wie ich es gerne hätte!
Im Sommer fuhr ich meist nach Israel, um mit der Familie zu sein. Wir wohnten bei meiner Mutter und fuhren oft ans Meer baden. Es war mir immer noch schwer nach Wien zurückzufahren, aus der ewigen Sonne in das verregnete, düstere Wien. Die Hitze in Israel hat mir nichts ausgemacht, obwohl damals noch niemand Aircondition hatte. Heute kann man sich das Leben in Israel ohne Aircondition überall gar nicht vorstellen.

Als Micky in die 3. Klasse gehen sollte, übersiedelten wir schon wieder. Bobby hatte eine Reise nach Brasilien für eine österreichische Regierungsdelegation organisiert, und weil er das so gut tat, hat man ihn für einen Orden vorgeschlagen. Bobby aber sagte Herrn Pitterman, der damaliger Vizekanzler war, er brauche eher eine Wohnung als einen Orden! Und so kam es, dass wir eine Wohnung in einem Gemeindebau in der Döblinger Hauptstraße bekamen. Sie war klein, aber die erste Wohnung, die vor uns niemand bewohnt hatte und die wir uns selber möblieren konnten. Denn mittlerweile sahen wir, dass unser Aufenthalt in Wien doch von längerer Dauer sein wird!

Der Bruder meiner Freundin Ruth (Ruth Ehrlich mit der ich doch in der Kwutzah war) übersiedelte auch nach Wien mit seiner Frau, die auch Ruth hieß, und wollte eine Miederfabrik aufmachen. Sein Vater bat Bobby als Teilhaber einzutreten und die kommerzielle Seite zu führen, was Bobby auch tat. Während die Kinder in der Schule waren ging ich in die Fabrik, die wir "LA REINE" nannten, und lernte das Gewerbe. Es fiel mir nicht schwer, denn schließlich war ich Schneiderin von Beruf. Es machte mir Spaß, neue Modelle zu entwerfen und die Arbeiterinnen anzuleiten. Bald hatten wir über 30 Angestellte und mussten in ein größeres Lokal übersiedeln. Das Geschäft ging gut, und ich hatte viel zu tun. Ich bemühte mich aber immer vor den Kindern zu Hause zu sein, so dass sie gar nicht merkten, dass sie eine "arbeitende Mutter" hatten.

Micky war 8 und Uri 11 Jahre, als sie begannen, in die Jugendorganisation "Schomer Hazair" zu gehen. Jeden Samstag Nachmittag waren sie dort mit anderen jüdischen Kindern und schlossen dort Freundschaften, die bis heute andauern. Im Sommer fuhr Uri das erste Mal alleine nach England zu einer englischen Familie als zahlender Gast, um selbständig zu werden und um Englisch zu lernen. Micky ging in ein Lager mit seiner Gruppe nach Neuberg.
Außer der Schule lernten die Buben Ziehharmonika spielen, denn ich wollte nicht, sie sollten sich so mit dem Klavier plagen, wie ich es tat. Außerdem hätte ein Klavier in unserer kleinen Wohnung gar keinen Platz. Ich dachte eine Harmonika wäre eine gute Sache, sie könnten sie überall mitnehmen und immer die Gesellschaft damit unterhalten. Das geschah aber nie. Uri hatte auch Fechtunterricht, weil sein Vater sich das wünschte, und Micky ging in die Hakoah schwimmen.
Ich war weiter in unserer Miederfabrik tätig, die inzwischen auch expandierte, aber am Nachmittag war ich immer mit den Kindern. Auch Micky kam schon in das Gymnasium, und da er immer realistischer war als Uri, haben wir ihn in die "Sameschschule" (der Direktor hieß so) eingeschrieben. Sie hatte eine gute Reputation und war in unserer Nähe. Die Schüler waren teilweise aus der Döblinger Elite und zum Teil Kinder aus dem Karl-Marx Hof, einem Sozialbau. Micky wurde bald zum Katalysator zwischen beiden, denn er gehörte nirgends dazu. Bald wurde er auch Klassensprecher, dann wurde er zu einem Kurs geschickt, wo er lernte, die Schülerzeitung zu leiten. Nebenbei schwamm er fast täglich, und wir hänselten ihn, ob er nicht schon Schwimmflossen habe von dem vielen Wasser.

Im Herbst 1964 bekam Bobby den Auftrag, eine Zweigstelle der Panair do Brasil in Genf zu eröffnen. Er pendelte also nicht nur zwischen den Oststaaten, wo er Direktor war, und Wien, sondern auch zwischen Genf und Wien. Das war natürlich sehr anstrengend, so bekam er einen Assistenten und war mehr in Genf als in Wien. Nach einiger Zeit entschlossen wir uns, die ganze Familie nach Genf zu übersiedeln. Es sollte nur temporär sein, denn wenn das Büro in Genf liefe, sollte Bobby ein neues Büro in Tel-Aviv aufmachen! Die Wohnung überließen wir amerikanischen Freunden, die in Wien für eine zeit lang stationiert waren und gingen nach Genf.

Wir alle waren vom ersten Tag in Genf verliebt! Die Buben gingen in einen Intensivkurs für Französisch. Während der Weihnachtsferien waren sie mit dieser Schule in Gstaad und lernten dort nicht nur Französisch auch etwas Englisch, da die meisten Schüler Amerikaner waren. Danach gingen sie gleich in ganz normale Schulen in unserer Nähe. Es war das erste Mal, wo die zwei nicht etwas Außergewöhnliches waren, weil jeder woanders geboren war. In Genf war das normal, denn die Stadt war sehr international. Micky war wieder sehr schnell integriert und bekam sogar am Ende des Schuljahres den "Prix de cameraderie". Uri war in diesem Alter sehr verschlossen, und ich weiß gar nicht, wie er unseren Aufenthalt empfand. Da wir wussten, dass die Zeit in Genf nur begrenzt war und wir danach nach Israel übersiedeln werden, haben wir Uri schon in Straßburg in einer Orthschule, eine technische Fachschule, angemeldet. Diese Schule gab es auch in Israel, war aber für das nächste Jahr schon ausgebucht. So meinten wir, Uri wird mit seinen neu erworbenen Französischkenntnissen in Straßburg gut durchkommen, und für das nächste Jahr hatte er schon einen sicheren Platz in der "Singalovsky" Schule. Uri war schon von klein auf technisch sehr geschickt und interessiert. Micky hatte eine leichte Ausrede, er sagte, er sei der „Untam“ in der Familie, denn wir alle bastelten gerne, er aber hatte zwei linke Hände!

Unser Aufenthalt in Genf ging langsam zu Ende, und meine Mutter kam, um mit uns den Sommer zu verbringen und auch um mir später beim Packen für die Übersiedlung nach Israel zu helfen. Wir wollten noch einen Bnei-Brith Kongress in Scheweningen besuchen und dann den Rhein entlang mit einigen Freunden eine letzte Europareise machen. Doch alles kam anders.

Ein paar Kilometer nach Scheweningen platzte ein Reifen, und unser Auto überschlug sich sechs mal und kam auf der gegenüberliegenden Seite der Autobahn mit den Rädern in der Luft zum Stehen. Die Kinder, meine Mutter und Bobby wurden alle aus dem Auto hinausgeschleudert, nur ich blieb im Wagen. Ich hörte ein Geklirre von Glas und einen  schrecklichen Schrei. Wie ich später erfuhr, war es unsere Freundin, die hinter uns in einem anderen Wagen fuhr und alles mit ansehen musste. Sie dachte, wir seien alle tot.
Ich kroch aus dem Wagen und sah die Kinder mir entgegenlaufen. Dann sah ich meine Mutter in einer Blutlache liegen, sie hatte eine Platzwunde am Kopf, und es sah fürchterlich aus. Man fragte mich, ob man einen Priester holen solle, doch ich wollte natürlich einen Arzt. Man hatte schon die Ambulanz gerufen! Jemand fragte, ob ich meinen Mann sehen wollte. Meine Mutter, der ich immer das Blut aus den Augen wischte, war bei Bewusstsein und fragte: "Wo sind die Anderen?". Man führte mich zu Bobby, der die Böschung hinunter geschleudert worden und gegen einen Baum geprallt war. Er verlangte nur nach seiner Tasche mit den Dokumenten, so dachte ich, es kann nicht so arg sein. Im Spital, in das uns die Ambulanz brachte, stellte sich heraus, er hatte drei Wirbeln gebrochen, und es war eine Frage von einem Bruchteil eines Millimeters, ob er gelähmt sein würde! Die Mutter hatte eine schwere Gehirnerschütterung und viele Abschürfungen. Die Kinder G’tt sei Dank nur Abschürfungen und einen Schock. Ich kam mit ein Paar Kratzern davon. Die Freunde, die in zwei Autos hinter uns gefahren sind, blieben auch über Nacht mit mir in einem Hotel und nahmen dann die Kinder mit nach Wien, denn nächste Woche fing die Schule an. Ich blieb in dem Hotel in der Nähe des Spitals in Ammersford. Bobby hatte große Schmerzen und war einige Tage unter Morphium, bis man sah, dass er keine inneren Verletzungen hatte. Dann bekam er eine Gips von der Halswirbelsäule bis zur Lende, konnte sich also gar nicht bewegen. Ich verbrachte die ganzen Tage wie im Trance im Krankenhaus und ging von Bobby zur Mutter und wieder zu Bobby. Auch ich hatte einen Schock und konnte nichts essen.

Nach einigen Tagen flog ich nach Wien, um nach den Kindern zu sehen. Die waren inzwischen bei anderen Freunden, den Fischers, untergebracht. Micky kam nach längeren Verhandlungen mit dem Schuldirektor wieder in seine ursprüngliche Klasse, und Uri brachte ich nach Straßburg, wo wir ihn doch eingeschrieben hatten. Er sagt bis heute, es war sein unglücklichstes Jahr. Doch ich dachte, es würde für ihn sehr schön werden! So pendelte ich Monate lang zwischen Ammersford, Wien und Straßburg. Nach etwa zwei Monaten konnte ich die Mutter nach Wien nehmen. Schließlich gelang es mir, auch Bobby nach Wien zu bringen, denn in Holland ließ man ihn nur liegen, und er bekam keine andere Behandlung. Er kam auf einer Bahre direkt vom Flugzeug ins Böhler Krankenhaus, wo man ihn am nächsten Tag aufrichtete, und er begann das Gehen zu üben.

Nach weiteren zwei Monaten kam er in ein Rehabilitationszentrum, wo er fleißig an sich arbeitete, um wieder gesund zu werden. Nun fuhr ich alle paar Wochen nach Straßburg zu Uri, denn der fühlte sich sehr einsam und unglücklich. Es wurde Februar, und man nahm Bobby endlich den Gips ab. Er wollte sofort nach Brasilien fliegen, um dort seine Angelegenheiten mit der Firma zu regeln. Zwei Tage vor seiner Abfahrt, er ging noch mit zwei Krücken, kam ein Anruf, die Panair existiere nicht mehr. Sie wurde nach einem Putsch beschlagnahmt! Bobby flog trotzdem, um zu retten, was zu retten wäre.
Meine Mutter fuhr nach Israel zurück, denn sie war für einen Winter nicht gerüstet. Bobby war arbeitslos, Uri unglücklich in Straßburg, nur Micky war ein Lichtblick! Nicht nur, dass er alles Versäumte in kürzester Zeit aufgeholt hat, ist er wieder Vorzugsschüler geworden und war voll integriert in seiner Klasse.

Bobby versuchte bei allen Airlines, einen Job zu bekommen, doch es war nichts frei in seiner Stellung. Mit Hilfe unseres Freundes Fritz Wiesel bekam er einen Job in einer Bank, war aber dort sehr unglücklich, denn es war keine befriedigende Arbeit. Im Sommer kam Uri mit all seinen Sachen nach Hause, fest entschlossen nicht mehr in das Internat zurückzukehren. Als wir nach Genf übersiedelten, hatten wir auch unseren Anteil an der Miederfabrik verkauft, so war auch diese Einnahmequelle versiegt. Wir mussten also wieder einmal von vorne anfangen. Bobby gab die Hoffnung nicht auf, doch noch zu einer Fluglinie zu kommen, denn das war das Einzige, was er wirklich gut und gerne machte. Er war 45 Jahre alt, zu alt.

Dann kam eine große Chance. Austrian Airlines wollte ihm die Vertretung für die ganze Iberische Halbinsel geben! Wir waren glücklich. Doch dann überlegten wir. Uri war zwei Jahre vor der Matura, er konnte unmöglich in einer neuen Sprache maturieren. Micky hatte sich wieder so gut eingelebt, konnten wir ihn wieder herausreißen? Sie hatten den Schock der Übersiedlung und des Unfalles kaum überwunden, konnten wir ihnen einen neuen Schock zumuten? Bobby zerriss den schon unterschriebenen Vertrag, und wir beschlossen, diese Chance, die wir nie wahrgenommen haben, nie zu erwähnen. Es ist auch das erste Mal, dass ich darüber berichte. So suchten wir weiter. Und Bobby bekam noch einmal eine Chance: Er lernte den Direktor der Avianca kennen und redete ihm buchstäblich ein, eine Zweigstelle in Wien zu eröffnen. Er gab ihnen unglaubliche Bedingungen, nur gegen Spesen und Kommission für sie zu arbeiten! Wir suchten eine Wohnung, wo Bobby sein Büro haben konnte. Nun drehte sich das Schicksalsrad wieder zum Besseren!

Bobby nahm auch eine Sekretärin auf, die langsam zum Familienmitglied wurde. Da Bobby weiter seine guten Beziehungen in den Oststaaten hatte, war er bald wieder sehr erfolgreich, und alle waren zufrieden.

Uri ging in die Maturaschule, denn er hatte zwei Jahre Latein und Griechisch versäumt, und das war nicht aufzuholen. Er sollte auch zum österreichischen Militärdienst, aber wegen seines Gebrechens am Ohr wurde er befreit. Ich muss sagen zu unserer Erleichterung! Nach der Matura war es für ihn selbstverständlich auf die Technische Hochschule zu gehen, denn das war immer schon sein Hauptinteresse. Wir hatten meiner in Brünn lebenden Cousine eine Garconniere abgekauft, und sehr zu meinem Leidwesen riet Bobby Uri, selbständig zu werden und alleine zu wohnen. Micky bemühte sich in der 7. Klasse in das American Field Service aufgenommen zu werden, doch nach dem er alle Tests passierte, sagte man uns, er sei zu jung. Das war für ihn eine große Enttäuschung! Nach seiner Matura wusste er nicht so genau, was er wollte und suchte alle möglichen Beratungsstellen auf. Dann entschloss er sich für das Studium an der Welthandel. Er suchte auch um ein Fulbright-Stipendium an, das er nach einem Jahr auch bekam. Man sandte ihn an die Brandeis Universität. Uns war es nur recht, denn es ist eine jüdische Uni, und wir dachten ihn dort gut aufgehoben. Meine Söhne gingen also langsam ihre eigenen Wege, Uri war auf der Technischen Hochschule nicht glücklich. Wir rieten ihm, doch gleich etwas anderes zu wählen, am liebsten wäre es uns gewesen, er hätte die Hotelfachschule gemacht, denn er hatte immer einen guten Umgang mit Menschen, sprach Deutsch, Französisch und Englisch und hatte auch gute Manieren. Im Sommer arbeitete er als Tour-Guide und hatte großen Erfolg dabei! Nach zwei Jahren auf der Technik entschloss er sich für Medizin.
Beide Buben waren also quasi aus dem Haus.

Eines Tages  sah ich im Profil eine Annonce: "Wenn sie ihren Haushalt mit der linken Hand machen, brauchen wir ihre Rechte!". Bobby war anfangs dagegen, dass ich mich überhaupt melde, doch ich rief trotzdem an. Man sagte mir, es werden Englischkenntnisse verlangt und Erfahrung im Umgang mit Touristen. Da sagte ich, ich hätte es schon immer getan, aber ohne Entgelt, denn ich führte die Klienten meines Mannes durch die Stadt. Ich bekam den Job.
Ich konnte alle Sprachen benutzen, die ich gelernt habe, am Abend gab es oft Galaempfänge in den verschieden Palais, und das machte mir viel Spaß. Eines Tages fehlte eine Fremdenführerin, so schickte man mich. Ich sah, dass es ziemlich einfach war, denn man brauchte nur die elementarsten Kenntnisse. Natürlich bildete ich mich weiter, um nicht in Verlegenheit zu kommen, und bald schickte man mich auch ins Ausland als Reisebegleiterin. Das war für mich eine Herausforderung, denn ich musste mich immer gut vorbereiten, hatte die ganze Verantwortung für die Gäste, für die Verpflegung, für das Gepäck usw. Dieser Job gefiel mir sehr gut, denn es war sehr abwechslungsreich, ich musste immer was Neues lernen, musste gut aussehen, und so überdauerte ich die so genannte "Midlife Krise", in die viele meiner Freundinnen gerieten, nachdem ihre Kinder das Haus verlassen hatten. Wenn man immer "nur" Hausfrau und Mutter war, ist es schwer, plötzlich mit dem Gedanken fertig zu werden, dass man eigentlich nicht mehr unbedingt gebraucht wird! Bobby tolerierte meine Emsigkeit, und ich glaube, er war auch Stolz auf mich.

Es gelang uns auch, mit vielen Überredungen Bobbys Eltern nach Wien zu bringen, denn in Rio starben in kürzester Zeit alle von Opas Geschwistern, und sie waren plötzlich alleine dort. Erst fanden wir eine Wohnung für die Eltern, die wir möblierten und inzwischen untervermieteten, doch nach zwei Jahren, als sie nicht kamen, haben wir sie wieder aufgelöst. Als sie sich dann doch entschlossen zu kommen, war die beste Lösung, sie in ein Pensionisten Heim zu geben, denn beide waren 80 Jahre alt. Anfangs waren sie nicht sehr glücklich, denn es fehlten ihnen die Bekannten, die sie in Rio hatten, und auch der lange Winter deprimierte sie sehr. Wir jedoch waren sehr froh, wieder etwas Familie hier zu haben. Micky kam aus Amerika zurück und setzte sein Studium an der Universität mit Erfolg fort.
Jeden Freitagabend kamen die Eltern und die Buben, Micky wohnte wieder bei uns und spielte gerne mit dem Opa Schach. Irgendwann beschloss Micky, in eine Wohngemeinschaft zu ziehen. Ich war sehr unglücklich darüber. Jedes Mal, wenn eines meiner Kinder wegzog, war ich sehr traurig! Micky wohnte also in der Burggasse mit noch drei, vier anderen Jugendlichen, zahlte dort viel Miete, die er sich selbst verdiente, war aber plötzlich viel mehr zu Hause als früher! Ich fragte ihn wieso? Da sagte er uns: „Jetzt komme ich, weil ich es will, und nicht weil ich muss!“. Uri kam eines Tages nach Hause und erklärte, er habe nun das Mädchen gefunden, das er heiraten wolle! Es war Brigitte, auch Medizinstudentin aus gutem jüdischem Haus. Der Vater und Bruder Arzt, alles passte zueinander. Sie wollten nicht bis zum Ende des Studiums warten und beschlossen im Juni zu heiraten.

Wir bereiteten also eine schöne Feier. Wir waren mit Uris Wahl sehr zufrieden, und alles passte so gut zusammen! Nach der Trauung im Tempel gaben wir einen Empfang im alten Rathaus, danach fuhr das junge Paar in einem Fiaker – der Kutscher hieß Herr Glück – in das Lusthaus im Prater, wo wir ein typisches Wiener Essen für die Familie gaben. Brigittes Eltern gaben ihnen eine Wohnung, und wir halfen mit der Einrichtung. So fing alles gut an, doch es ging nicht so gut weiter. Nach einigen Jahren war die Liebe vorbei, und als Uri endlich mit seinem Studium fertig war, eröffneten sie uns, sie ließen sich scheiden! Ich war nicht überrascht aber traurig. Ich habe Brigitte sehr gerne gehabt, und wir beschlossen auch weiterhin in gutem Kontakt zu bleiben.

Auch Micky eröffnete uns, er habe seine Frau fürs Leben gefunden. Sie haben gemeinsam Brandeis besucht. Es war Ayesha, ein Mädchen aus Indien. Wir waren nicht begeistert, denn es war uns alles so fremd, und wir hatten Angst, wenn nach einiger Zeit die Liebe vergeht, die verschiedenen Lebensarten und Gewohnheiten einfach nicht passen werden. Ich bin sicher, auch Ayesha stand unter Druck von ihren Eltern, denn sie ist das einzige Kind, und die Eltern waren sicher nicht glücklich, sie an einen so Fremden und so weit weg von der Heimat ziehen zu lassen! Doch die Beiden überwunden alle Schwierigkeiten, und nach acht Jahren heirateten sie doch. Micky hatte inzwischen sein Studium in Oxford beendet und bekam sofort eine Stellung in Cambridge, wo er und Ayesha endlich zusammenziehen konnten. Die Trauung war am Magistrat in Cambridge. Wir lernten Ayeshas Familie kennen, und heute sind wir froh, dass die beiden ihren Kopf durchgesetzt haben!

Da nun beide Kinder erwachsen waren und eigentlich mein Anteil an ihrer Erziehung vollbracht war, wandte ich mich anderen Aufgaben zu. Im Sommer arbeitete ich weiter als Reiseleiterin, hatte guten Erfolg und auch viel Genugtuung. Doch was mache ich im Winter? So entschloss ich mich, auch etwas für die Allgemeinheit zu tun. Da mein Herz immer noch an Israel hang, wollte ich etwas für dieses Land tun. Und so wurde ich ein aktives Mitglied der WIZO. Erst wurde ich als Repräsentantin der WIZO in der U.N. gewählt, später war ich Vorsitzende und zuletzt auch Präsidentin. Diese Aktivitäten, obzwar sie zeitraubend und oft auch frustrierend waren, gaben mir doch ein Gefühl, nicht nur für mich und meine Familie da zu sein, sondern auch für diejenigen, die Hilfe brauchen. Ich traf mit wunderbaren Frauen zusammen, mit denen wir gemeinsam ein großes Werk schafften. Und wenn ich dann in Israel eines der drei Tagesheimstätten, die aus unseren Geldern finanziert wurden, besuchte, dann sah ich, dass sich die Mühe und der Ärger lohnten. Die Krönung meiner Tätigkeit war dann die Verleihung des „Rebecca Sieff Awards“ an mich. Ein Bäumchen auf meinen Namen wurde in unserem Heim in Modiin gepflanzt!

Das Einzige, das Bobby und mir zu unserer Zufriedenheit fehlte, waren Enkelkinder! Bobby sagte einmal zu mir, als wir aus der Synagoge gingen: „Der einzige Fluch, den es in hebräischer Sprache gibt, „Dein Name sei ausgelöscht“, scheint an uns war zu werden.“ Denn aus der großen Familie Landesmann gab es keine jüdischen Nachkommen!

Doch auch das wurde uns eines Tages gegeben! Wir haben nun drei wunderbare Enkerln: Raphael, David und Mimi. Wenn ich nun zurückblicke auf 75 Jahre meines Lebens kann ich zufrieden sein. In einer Zeit, wo andere so viel Leid und Qualen erleiden mussten, hatte ich eine glückliche Kindheit und eine beschützte Jugend. Auch mein späteres Leben als Frau und Mutter verlief G’tt sei Dank ohne große Turbulenzen. Ich wurde immer umgeben von liebevollen Menschen und habe eigentlich immer nur Gutes erfahren!