Herbert Lewin

Herbert Lewin 1944 in Palästina

Herbert Lewin
Österreich
Wien
Datum des Interviews: November 2002 
Name des Interviewers: Tanja Eckstein

Herbert Lewins Nichte erfährt von dem Projekt eine Bibliothek jüdischen Lebens aufzubauen und meldet sich bei Centropa. Ihr Onkel, Herbert Lewin, so sagt sie, erzähle oft so interessant über sein Leben, und das sei sicher nicht nur für sie von Interesse. Herbert Lewin lebt, fast völlig erblindet, seit dem Tod seiner Frau allein in seiner Wohnung im 10. Bezirk Durch die sehr engagierte Hilfe eines jungen Mädchens, kann er aber noch aktiv am Leben teilnehmen. Er besitzt auch ein elektronisches Buchlesegerät in Sprachform für Blinde, was er mir vorführt. Er genießt Kaffe, Kuchen und die Gesellschaft und erzählt mit großer Freude sein Leben.

Das Familiengeschäft

Meine Familie
Die Juden in Osterode

Mein bester Freund

Die Schulzeit

Die Machtübernahme

Die Reise nach Palästina

In Palästina

Die Rückkehr

Glossar

Das Familiengeschäft

Mein Großvater väterlicherseits hieß Louis Lewin. Er war schon gestorben, als ich zur Welt kam. Mein Vater hat das Geschäft des Großvaters weiter geführt. Das Firmenschild hing noch über dem Geschäft: Louis Lewin. Klein darunter: Inhaber Ivan Lewin. Mein Vater hat das Geschäft eigentlich für die Großmutter weitergeführt, denn er war ganz ehrlich: 'Kinder, ihr könnt werden, was ihr wollt, das Geschäft kriegt niemand von euch, weil es eine Knochenarbeit ist.' 1914, im 1. Weltkrieg, wurde er aufgefordert, zum Militär zu kommen, aber es wäre dann niemand da gewesen, der das Geschäft hätte führen können. Darum hat er einen Posten halbtags in der Schreibstube im Bezirkskommando gekriegt, und halbtags ist er dann im Geschäft gestanden.

Wochentags, sonntags und feiertags wurde um 7 Uhr früh das Geschäft aufgemacht, es war durchgehend geöffnet. Es gab nur Tabakwaren und Alkohol. Früh um 7 Uhr sind schon die Beamten gekommen, die schräg gegenüber, auf der Post, gearbeitet haben, um ihr Bier zu trinken. Am Abend hat sich dasselbe zugetragen, da sind sie vom Dienst gekommen, ein zweites Glas Bier und ein Korn [Anm.: aus Getreide hergestellter deutscher Branntwein].

Meine Großmutter hieß Helena Lewin. Ich kann mich erinnern, dass sie schon sehr alt war. Sie war eine streng gläubige, aber tolerante Frau. Wir hatten einen Ausschank, und sie ist Sommer wie Winter, die ganze Woche, am Kachelofen gesessen. Das haben wir als Kinder großartig gefunden. Jeder Gast, der herein gekommen ist, meistens waren es Handwerker oder Bauern, hat sie gekannt. Von jedem hat sie auch die Familie gekannt: Was macht das Kind, was macht die Frau - das war das erste, wenn ein Kunde herein gekommen ist. Jeder hat Frau Lewin die Hand geschüttelt, ein bisserl gefragt, erzählt, dann ist er erst zur Schank gekommen, hat ein Bier getrunken, einen Korn dazu und ist wieder gegangen. Sesshafte Kunden hat mein Vater nicht geduldet - es war nicht üblich, sich an einen Tisch zu setzen. Man stand an der Theke, man hat dort getratscht. Das Interessante war, bei meinem Vater gab es keine politischen Auseinandersetzungen im Lokal. Wir haben als Kinder beobachtet: An der einen Ecke standen die Deutschnationalen und an der anderen Ecke standen die Maurer, Zimmerleute - das waren Kommunisten. Und beide Fraktionen haben in Ruhe und Frieden ihr Bier und ihren Korn getrunken.

Meine Großmutter trug eine Perücke, einen Scheitl 1, und am Freitagabend ist sie stillschweigend verschwunden. Über dem Geschäft hatte sie ihre Wohnung: zwei Zimmer und eine fleischige Küche. Unten, neben dem Lokal, war ihre milchige Küche. Wenn sie gewusst hat, dass der Schabbes 2 kommt, ist sie raufgegangen und hat Lichter gebenscht [Anm.: gesegnet]. Sie hat gewusst, bei uns zu Hause ist trefe 3. Wir waren sehr gern bei ihr gesehen, wir sind oft bei ihr oben gewesen, aber sie ist nicht einmal zu uns in die Wohnung gekommen, weil sie gewusst hat, sie kann bei meiner Mutter nicht einmal ein Glaserl Wasser trinken, weil es trefe ist. Also so was von Toleranz! Sie hat gewusst, wir essen Schinken, wir essen Schweinsbraten - nie hat sie ein Wort darüber verlauten lassen, und deshalb war sie bei uns allen unheimlich beliebt. Ich kann mich erinnern, dass sie in ihrer Schürzentasche immer 'Kaisers Brustkaramellen' hatte, von denen sie uns gab. An den hohen Feiertagen 4 sind wir zu ihr raufgegangen und haben ihr gute Feiertage gewünscht. Aber dann sind wir wieder weggegangen. Wir haben sie allein gelassen, denn sie hat gebetet. Sie ist die letzten Jahre sogar in die Synagoge gegangen. Meine Cousine Ilse, die Tochter meiner Tante Cilli aus Berlin, ist bei meiner Großmutter aufgewachsen und hat sich um sie gekümmert. Ilse hat auch zur Mittagszeit im Geschäft ausgeholfen, und wenn mein Papa weggegangen ist, hat sie im Geschäft gearbeitet und sich auch um meine Mutter gekümmert.

Wir haben in Osterode, Ostpreußen, gelebt. Die nächste Regierungshauptstadt war Allenstein. Osterode war die Perle der masurischen Seen. Unsere Wohnung grenzte direkt an einen See. Das war der Drweckie-See. Dieser See war verbunden mit vielen Seen, da konnte man mit dem Ausflugsschiff von Osterode bis nach Elbing an die Ostsee fahren. Das haben wir einmal mit meiner Mutter gemacht.

In Osterode gab es keine koscheren Geschäfte, es lebten ja nicht so viele Juden in dieser Gegend. Aber ein christlicher Fleischhauer hatte einen Hauklotz, der koscher 5 war. Hinter dem Geschäft hatten wir einen kleinen Hof, da ist ständig ein lebender Truthahn oder eine Gans herum gelaufen. Wenn meine Großmutter sofort essen wollte, hat sie die Gans oder den Truthahn in einen Korb mit einem Deckel gegeben, und wir Kinder haben zum Rabbiner gehen müssen, um das Tier koscher schlachten zu lassen. Das war für uns furchtbar. Wenn der angefangen hat, das Messer zu wetzen, sind wir raus gegangen und haben nicht hinschauen können. Nachdem es tot war, hat er das Tier zwischen die Füße genommen, am Hals drei, vier Federn ausgerupft, und mit einem Schnitt hat das angefangen zu bluten. Das war grauslich! Das Tier haben wir der Großmutter ausgeblutet bringen müssen. Die Großmutter starb 1929, und der halbe Ort ist hinter ihrem Sarg hergegangen. Mein Vater sprach ein Jahr Kaddisch 6 für sie.

Meine Familie

Bild entfernt.Mein Vater, Ivan Lewin, wurde 1880 in Osterode geboren. Er hatte einen Bruder und eine Schwester. Sein Bruder Arthur Lewin war als junger Bursche ausgewandert. Er hatte zur Mutter gesagt, dass er das Geschäft nicht übernehmen werde und ist nach Südamerika gegangen. Auf dem Schiff war ein Herr, der hat zu ihm gesagt: 'Sag einmal, bist du nicht der junge Lewin aus Osterode? Ich bin der Bruder von dem Kammnitzer aus Osterode, daher kenne ich dich vom Sehen in der Synagoge.' Die Kammnitzers hatten ein Ledergeschäft in Osterode. 'Wenn du willst, kannst du zu mir ins Juweliergeschäft als Lehrling kommen und Goldschmied werden.' Es hat nicht lange gedauert, da war mein Onkel Mitinhaber der Firma. Seitdem hat er regelmäßig, durch einen Geschäftsfreund, Geld geschickt. Jeden Monat hat er Geld geschickt für meine Großmutter, für meinen Vater und für die Schwester in Berlin. Zweimal im Jahr bekamen wir einen Sack Rohkaffee, den hat ein befreundeter Kapitän von der Hapag Loyd [Anm.: Hamburg-Amerika Linie] zollfrei nach Hamburg mitgenommen und uns zukommen lassen. Von dem Kaffee haben wir soviel genommen, wie wir gebraucht haben. Nebenan war ein Kaffeegeschäft und dem Besitzer haben wir dann den Kaffee günstig verkauft. Durch den Onkel konnten wir bis zuletzt halbwegs leben. Er hatte zwei Töchter und einen Sohn und einmal war er mit den zwei Töchtern in Osterode. Der Sohn war schon auf der Diplomatenschule. Der Onkel kam mit den Kindern und einer schwarzen Kinderfrau. Das war für meinen Bruder und mich schrecklich: mit der schwarzen Amme durch Osterode spazieren! Wir haben uns gesträubt mit Händen und Füßen, denn wir haben uns so geniert. Der Onkel hat im Hotel gewohnt, weil er es gewöhnt war, jeden Morgen ein Bad zu nehmen. Das haben wir ihm in unserer Wohnung nicht bieten können.Die Schwester meines Vaters hieß Cilla Lewin. Sie hat in Berlin gelebt und war mit Adolf Scheidemann verheiratet. Sie hatten zwei Töchter, Ilse und Ella. Ilse war mit Benno Pottlitzer, der Vertreter in Textilwaren war, verheiratet. Beide wurden 1943 in Auschwitz ermordet [Quelle: Gedenkbuch Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus].

Bild entfernt.Meine Mutter, Bertha Lewin, geborene Guth, wurde in Preußisch Stargard, in Pommern, 1890 geboren. Onkel Max, der Bruder meiner Mutter, war verheiratet und hatte zwei Töchter. Bei ihm waren wir einmal auf Urlaub. Er wohnte in Landsberg und hatte ein Textilgeschäft und ein Auto mit einem Chauffeur, der bei den Bauern herum gefahren ist und Raten kassiert hat. Man kaufte ja damals die meisten Sachen auf Raten. Die Großmutter haben wir nur einmal gesehen. Sie hieß Guth, den Vornamen weiß ich nicht. Sie hat bei dem Onkel Max gelebt und hatte ein Zimmer mit vergitterten Fenstern, weil sie mondsüchtig, irgendwie geistig verwirrt, war. Das war schrecklich für uns Kinder. Das hat auch meiner Mutter nicht behagt, und wir Kinder haben uns da fadisiert [Anm.: gelangweilt], bis uns der Chauffeur gesagt hat, wir sollen dem Onkel sagen, dass er uns Geld für Schokolade geben soll. Der Onkel hat sofort mir und meinem Bruder je eine Mark gegeben.

Rahel, die Schwester meiner Mutter, hat bei uns gewohnt. Sie war auch aus Preußisch Stargard. 1920 war eine Volksabstimmung und alle, die für Deutschland optiert hatten, bekamen von Deutschland eine kleine Pension. Die Tante Rahel hatte für Deutschland optiert. Mein Papa hat sie zu uns in die Wohnung genommen. Später war sie aber ein 'rotes Tuch' für meinen Vater, denn sie hat nichts bezahlt bei uns. Ihre ganze Pension ist auf ein Sparkonto gegangen. Sie hat am Tisch gesessen, mit uns gegessen und dem Papa vorgeworfen, er werfe das Geld aus dem Fenster hinaus, denn mein Papa war ein kleiner Gourmet. Er hatte gern Delikatessen und ist auch fürs Nachtmahl immer selber einkaufen gegangen. Da hat er Lachs geholt und den besten Käse ausgesucht. Das hat sie ihm dauernd vorgeworfen. Das ist jahrelang so gegangen, und mein Papa hat das geschluckt. Bis er dann eines Tages gesagt hat, sie soll ausziehen. Sie ist nach Allenstein ins jüdische Altersheim übersiedelt. Dort haben wir sie ab und zu besucht, haben eine halbe Stunde bei ihr gesessen, und beim Abschied ist sie zum Ofen gegangen, da war so eine Klappe drin, hat zwei verschrumpelte Äpfel raus genommen und uns Kindern gegeben.

Meine Eltern hatten sich auf einem jüdischen Fest in Danzig [Gdansk: heute Polen] kennen gelernt. Mein Vater hatte in Danzig gelernt ein Sägewerk zu führen, und meine Mutter arbeitete in einem Porzellangeschäft. Meine Mutter ist dann zu meinem Vater nach Osterode gezogen, 1915 haben sie geheiratet. Ich bin 1917 geboren, da war noch eine Schwester vor mir, die gestorben ist. Mein Bruder Werner ist im Oktober 1920 geboren.

Die Juden in Osterode

Dass wir jüdisch waren hat in Osterode überhaupt keine Rolle gespielt. Wenn ein Bürger gewusst hat, morgen ist ein jüdischer Feiertag, ist er zum Juden Lewin ins Geschäft gekommen mit einem Flascherl: 'Herr Lewin, ich kriege ein Viertel, morgen haben Sie ja zu.' An den hohen jüdischen Feiertagen hat mein Vater das Geschäft zugemacht, und wenn mein Vater mit dem Zylinder ging, dann war ein Feiertag. Die hohen Feiertage hat er gehalten. Er konnte beten, er konnte aus der Torah 7 vorlesen, denn er hatte ja eine jüdische Erziehung genossen. Meine Mama hat überhaupt nichts gewusst. Sie ist aber auch zu Rosch Haschana 8 in den Tempel gegangen. Sie saß oben mit den anderen Frauen, und eine gute Freundin saß immer neben ihr. Einmal hat meine Mutter zu der Freundin gesagt: 'Sag einmal Selma, kannst du mir zeigen, wo wir eigentlich sind?' Da hat die Selma das Bücherl von der Mama genommen, darin herum geblättert und gesagt: 'Wenn du zu Rosch Haschana das Buch von Pessach 9 nimmst, kannst du nicht finden, wo wir sind.' Also, meine Mutter hatte keine Ahnung, aber sie war eine bewusste Jüdin.

In unserem Ort gab es keine jüdische Schule. Wir waren in meiner Klasse 24 Kinder, davon waren zwei jüdisch. Die Eltern des anderen Buben besaßen ein Schuhgeschäft, Jacoby hieß er. Einmal kam der Herr Rabbiner, als ich noch in die Volksschule ging, zu meinem Vater und hat gesagt: 'Weißt du, dass dein Kind in den christlichen Religionsunterricht geht.' Mein Vater sprach daraufhin mit dem Klassenvorstand und der sagte: 'Herr Lewin, ich schätze den Herrn Rabbiner sehr, aber was für einen Unterschied macht der Rabbiner zwischen dem christlichen Alten Testament und dem jüdischen Alten Testament. Bis zur vierten Klasse nehmen wir das Alte Testament durch, wie der Herr Rabbiner. Und wenn die zwei Kinder mir sagen, sie fadisieren sich in der einen Stunde auf dem Schulhof, na, warum sollen sie nicht da sitzen bleiben?' Das hat mein Vater akzeptiert.

Die Synagoge in Osterode war ziemlich groß. Aus den umliegenden Orten kamen alle Juden zu den hohen Feiertagen nach Osterode. Hebräisch Unterricht hatten wir in einem Haus neben dem Tempel. Sieben oder acht Kinder sind da zusammen gekommen, mehr nicht. Und einmal in der Woche kam der Rabbiner in die Schule und hat dort biblische Geschichte gelehrt. Unser Rabbiner, der Doktor Mannheim, war ein Rabbiner, wie man ihn in keiner jüdischen Gemeinde finden kann: Einmal im Jahr kam der Vorsitzende der Kultusgemeinde mit zwei Lehrern kontrollieren, wie der Herr Rabbiner den Religionsunterricht gestaltet. Der Rabbiner war aber immer vorher gewarnt und hat jedem von uns ein Bücherl gegeben und gesagt: 'Du kommst mit dem Abschnitt dran, und du kommst mit dem Abschnitt dran. Was du nicht weißt, schreib dir mit dem Bleistift darüber.' Nach der Kontrolle zweier Schüler haben hat der Vorsitzende der Kultusgemeinde immer gesagt: 'Herr Mannheim, wir sehen, es ist ein guter Unterricht.' Es gab auch kein jüdisches Kind, dass keine eins oder zwei in Religion hatte. Da hat mein Vater den Rabbiner einmal zur Rede gestellt: 'Herr Mannheim, wie machen Sie das, dass alle jüdischen Kinder mit gutem Zeugnis davon kommen?' Und der Herr Mannheim sagte: 'Herr Lewin, soll ich Ihnen was sagen: Wär es nicht a Schand, wenn a jüdisches Kind weniger als a zwei hat?' Den Rabbiner Mannheim habe ich dann wieder getroffen in Israel. Sein Sohn war Arzt, der hatte ihn mit nach Palästina genommen.

Bild entfernt.Wir haben sehr viele Bekannte gehabt, unser Haus war ein offenes Haus. Mein Vater hat sich nur wohl gefühlt, wenn am Abend eine Gesellschaft war. Da hat uns meine Mutter einmal beiseite genommen und gesagt: 'Kinder, ich will euch mal was sagen. Jeder betet zu seinem Gott, der Gott hat viele Namen. Der eine heißt Allah, der eine heißt Jehova, der andere heißt Jesus. Und am Ende kommt alles oben zusammen, weil es nur einen einzigen Gott gibt. Namen hat er viele, aber es gibt nur einen Gott! Und das müsst ihr respektieren', so sind wir erzogen worden. Zu Geburtstagen durften wir mehrere Kinder einladen. Es war egal, ob die Kinder jüdisch, katholisch oder protestantisch waren. Mein Freund Hans war natürlich immer dabei.

Wir hatten eine große Wohnung mit fünf Zimmern. Da war ein Herrenzimmer, ein Speisezimmer und ein Esszimmer, das aber nur benutzt wurde an hohen Feiertagen, wenn die befreundeten Familien aus der Nachbarortschaft mit ihren Kindern zu uns kamen und die Feiertage bei uns verbrachten.

Die Familie Hirschfeld wohnte in der Nähe, in der Ortschaft Liebemühl. Sie waren die Besitzer eines riesigen Textilgeschäfts. Die zwei Buben sind in Osterode ins Gymnasium gegangen. Nach dem I. Weltkrieg ist die Eisenbahn sehr unregelmäßig gegangen. Da sie zwei Stationen mit der Bahn haben fahren müssen, hat meine Mutter die Buben zu uns genommen, bis die Bahn wieder regelmäßig fuhr. Meine Mutter hat von der Familie Hirschfeld kein Geld dafür genommen. Das wurde dann eine Freundschaft bis zum Tod der Frau Hirschfeld. Ich wollte die Tochter Liselotte Hirschfeld heiraten. Das hieß in den kleineren Ortschaften Schadchen Ehe. Da hatte der Rabbiner immer seine Hand im Spiel, aber der Lieselotte hat er dann einen sehr frommen jungen Burschen vermittelt. Sein Vater war Fischereipächter von allen masurischen Seen. Lieselotte hat meiner Mutter ihren zukünftigen Bräutigam vorgestellt und gefragt, was sie von ihm halte, und meine Mutter hat geantwortet: 'Lotti, der Bursch gefällt mir sehr gut, er ist ein netter gepflegter Mensch, sehr gebildet, aber du musst wissen, wenn du ihn heiratest, musst du koscher werden. Das ist das A und O. Alles andere interessiert ihn nicht, aber du musst deinen Haushalt koscher führen.' Lieselotte hat geantwortet: 'Tante Bertha, das nehme ich auf mich. Er gefällt mir, und ich werde ihn heiraten.' Der Rabbiner hat sie zu Hause getraut. Es war dann eine großartige Hochzeit. Da war sogar eine Chuppe 10, da hab ich wenigstens einmal eine Chuppe gesehen. Mein Vater hatte ein kleines Kammerl als Bar eingerichtet und den Angestellten beigebracht, wie man Cocktails mixt. Eine Musikkapelle von vier Musikern hat gespielt. Mit den Musikern sind wir dann in der Früh mit dem ersten Zug nach Hause gefahren. Im Zug habe ich gesehen, dass die Musiker unter dem Rockaufschlag Hakenkreuze trugen, jüdische Musiker gab es ja dort nicht. Da hat mein Vater zu den Musikern gesagt: 'Um Gottes Willen, was passiert Ihnen, wenn herauskommt, dass Sie auf einer jüdischen Hochzeit gespielt haben?' 'Herr Lewin, wenn es nicht jüdische Hochzeiten gäbe, müssten wir verhungern. Schauen sie mal, was die Frau Hirschfeld uns eingepackt hat: Kartons voll mit Essen. Wir müssen auch leben, das Hakenkreuz macht uns nicht satt.' Das war 1935, ich war damals 18 Jahre alt.

Der Adolf Hirschfeld hat sehr unglücklich geheiratet. Meine Mutter hat oft in dem Geschäft der Hirschfelds ausgeholfen, aber die Frau vom Adi hat das dann verboten. Sie hat gesagt: 'Alles schön und gut, aber ich mag nicht, wenn fremde Leute in unserer Kasse rumstierln [dt: durchsuchen, herumstöbern].' Meine Mutter wollte dann nie mehr hingehen, aber dann ist Frau Hirschfeld gestorben, da war meine Mutter die letzten drei Tage an ihrem Bett, bis sie die Augen zugemacht hat, und dann ist sie wieder nicht mehr hingefahren. Später bin ich nach Jugoslawien auf Hachschara 11 gegangen, da hab ich eine Liste bekommen, was wir alles mitnehmen müssen. Warme Kleidung, Stiefel, Sommerkleidung, aber wir hatten kein Geld mehr. Da hat die Mama sich keinen Rat gewusst und ist doch zum Adi nach Liebemühl gefahren und hat ihm die Liste gezeigt. Da hat der Adi gesagt: 'Tante Bertha, nimm dir, was du brauchst. Ist gescheiter, du nimmst es, als jemand anders nimmt es uns weg!'

Mein bester Freund

Ich hatte einen Milchbruder, den Hans Schaller, den habe ich sehr geliebt. Die Familie Schaller lebte in ganz ärmlichen Verhältnissen, der Stiefvater war ein Trinker, der leibliche Vater war im I. Weltkrieg gefallen. Frau Schaller hat bei der Post als Aufräumefrau gearbeitet, und die älteste Tochter war bei uns Stubenmädchen. Die Familie hat am Stadtrand von Osterode gewohnt. Da gab es noch kein elektrisches Licht. Weihnachten bin ich hingefahren, die hatten sie eine Petroleumlampe, und wir sind zu dritt um den Weihnachtsbaum gesessen: die Frau Schaller, mein Milchbruder und ich. Wir haben getratscht ein bisserl und sind dann, als es Zeit war, aufgebrochen. Ich bin nach Hause gegangen und sie sind zur Christmette gegangen. Der Hans und ich haben auch immer die Schulbrote getauscht. Er hatte ein Brot mit Schweineschmalz, ich hatte eine Wurstsemmel. Wenn ich von der Schule gekommen bin, hab ich meinen Ranzen hin geschmissen und bin ohne Schulaufgaben zum Hans gelaufen. Auf dem kalten Herd, sie hatten noch einen Kohlenherd, stand ein Topf mit Schweineschmalz und eine Blechkanne mit Malzkaffee. Jeder hat sich ein Stück Brot runter geschnitten, Schweineschmalz darauf und kalter Malzkaffee. Das war unser Mittagessen, und wir haben uns köstlich amüsiert. Draußen gab es große Sandberge von den Ziegeleien. Wir haben dort Burgen bauen können, und vor dem Winter haben wir eine Sprungschanze gebaut. Die ist dann gefroren, und wenn es geschneit hat, war die Sprungschanze fertig.

Bild entfernt.Hans musste zur Hitlerjugend, sonst hätte er zur Gesellenprüfung als Bäckerlehrling nicht antreten dürfen. Er ist in die Hitlerjugend eingetreten, hat aber keine Uniform gehabt und kam zum Appell in Zivil. Der Oberstabsführer hat getobt: 'Hans Schaller, nächste Woche kommst du mit einer vollkommenen Uniform zum Appell'. Hans sagte: 'Ich kann aber nicht, meine Mutter hat kein Geld.' Eine Woche später ist er in Uniform erschienen. Er hat dann laut verkündet, dass seine Stiefel vom Juden Jacoby sind und Hemd und Hose vom Juden Jablonsky. Der Oberstabsführer war sehr wütend, aber Hans hat ganz ruhig erklärt: "Meine Mutter hat kein Geld und musste auf Kredit kaufen. Und Kredit kann sie nur bei Juden kriegen.' Hans war in Osterode in der Bäckerei, die das ganze Kommissbrot für das Militär gebacken hat. Er blieb die ganzen Jahre mein Freund und hat uns auch zu Hause in Uniform mit Hakenkreuz besucht. Er ist das geblieben, was er war, bis zu seinem Tod. Er musste zur Marineinfanterie und ist im Krieg gefallen

Die Schulzeit

Nach der Volksschule haben meine Eltern darauf gedrungen, dass ich aufs Gymnasium gehe. In der Volksschule war ich ein erstklassiger Schüler. Ich bin aufs Gymnasium gekommen, obwohl ich nicht wollte, weil ich die ganze Zeit mit dem Hans zusammen war, und der Hans ist weiter in die Volksschule gegangen. Wegen des Gymnasiums sollte ich mich von ihm trennen. Die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium hab ich geschafft, und auch die Sexta, die erste Klasse, hab ich geschafft. In der Quinta ist dann Französisch und Latein dazu gekommen, und da war es aus. Ich bin sitzen geblieben und wollte nicht mehr in die Schule gehen. Ich musste aber noch bis zur Quarta gehen, dann ging es nicht mehr. Mein Vater hat mich auf die Handelsschule geschickt, und plötzlich war ich ein großartiger Schüler. Das hat mir zugesagt: Stenografie, Buchführung, Schreibmaschine schreiben, Geschäftsbriefe schreiben, da war ich gut.

1933 war ich das erste Jahr auf der Handelsschule. Eines Tages mussten wir alle in die Aula gehen und uns aus dem Radio die Rede vom Hindenburg anhören, wie er den Hitler einführte. Da hat mich mein Klassenvorstand gerufen und gesagt: 'Herbert, tut mir leid, du musst auch mitkommen. Wenn alle aufstehen und die Hand zum Hitlergruß heben, bleibst du ruhig stehen, hebst nicht die Hand, denn das würde man als Provokation auffassen. Dann weiß ich nicht, was passiert.' Als ich wieder in die Klasse kam, lag ein kleines Kärtchen auf meinem Pult. Auf der Karte stand: 'EINE FREIFAHRT NACH JERUSALEM UND NIE WIEDER ZURÜCK!' Die Tochter von einem Speditionsunternehmen nahm mir das Kärtchen aus der Hand und legte es dem Klassenlehrer aufs Pult. Er hat es zerrissen und in den Papierkorb geworfen. Vor dem zweiten Jahr haben meine Eltern einen Brief bekommen, in dem stand: Es tut uns sehr leid, aber wir können keine jüdischen Kinder in unserer Gesellschaft dulden.

Mein Bruder war ein Musterschüler. Der konnte sich hinsetzen, zweimal die unregelmäßigen Verben in Latein durchlesen, und sie waren in seinem Kopf. Der ist bis zur Quarta gekommen. Dann hat der Direktor vom Gymnasium meinen Vater rufen lassen und hat gesagt: 'Herr Lewin, es tut mir sehr leid, solch einen Schüler von der Schule weisen zu müssen, aber von höherer Stelle hab ich die Anweisung bekommen, dass keine jüdischen Schüler auf dem Gymnasium geduldet werden.' Mein Bruder hat dann auch zu Haus herum gesessen. Er ist dann zu einem jüdischen Gutsbesitzer gekommen, der jüdische Kinder für Palästina vorbereitet hat. Aber von Weggehen war gar keine Rede, da ging es nur um die Beschäftigung. Wie er dort war, hat ihm die Vorstellung nach Palästina zu gehen gut gefallen.

Bild entfernt.Mein Vater hat meinem Onkel nach Brasilien berichtet, dass ich keinen Ausbildungsplatz habe und der Werner von der Schule musste. Da hat mein Onkel zurückgeschrieben, er werde sich darum kümmern, dass der Werner nach England kommt und dort weiter zur Schule gehen kann. Er hatte einen englischen Geschäftsfreund in London, der hat dem Werner 1937 ein Permit 12 nach England besorgt. Dort hat er das Abitur gemacht und begonnen, Pädagogik zu studieren. Aber dann haben die Engländer in den Krieg eingegriffen, und er wurde auf der Isle of Man interniert. Dort hat er aber sein Studium als Fernstudium weitermachen können. Dann hat er sich freiwillig zu den Fallschirmjägern gemeldet. Er ist mit den ersten Invasionstruppen hinter den deutschen Linien in Dünkirchen [Frankreich] abgesprungen. Er hat dort den Krieg zu Ende erlebt, und noch als Dolmetscher gearbeitet. Mein Bruder hat nach dem Krieg in England geheiratet und wurde Lehrer. Er starb 1997 in England.

Bis 1933 hatte ich in meiner Kindheit überhaupt keinen Antisemitismus erlebt. Die jüdische Gemeinde hatte geglaubt, es könne ihnen nichts passieren, denn sie sind deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens. Das war eigentlich für viele der Untergang.

Die Machtübernahme

1933, nach Hitlers Machtübernahme, musste die Polizeistreife immer mit einer SA-Begleitung gehen, weil die SA der Polizei nicht getraut hat. Die Polizisten kamen alle aus der Reichswehr, das war ein Berufsheer mit zwölf Jahren Dienstzeit, und sie wurden in der Dienstzeit eingeschult auf Beamtenposten. Nach zwölf Jahren sind sie übergegangen zur Post, zum Zoll oder zur Polizei. Diese Leute haben nichts gewusst von Antisemitismus, es konnte passieren, dass sie mit meinem Vater in eine Klasse gegangen sind. Es gab in Osterode keinen Juden, der belästigt wurde, dort war das unmöglich.

Mein Papa musste 1934 das Geschäft verpachten. Es ist niemand mehr hinein gekommen, weil zwei SA-Männer am Eingang standen um zu kontrollieren, wer zum Juden hinein - und herausgehen. Die zwei SA-Männer kamen nicht aus unserem Ort. Wer weiß, wo sie die her geschafft hatten. Die ganze SA waren fremde Leute. Mein Vater ist zur Naziparteileitung gegangen und hat gesagt, er möchte sein Geschäft verpachten. Ein Kellner aus Elbing hat das Geschäft übernommen. Der Kellner wollte aber nicht die Geschäftsbücher sehen, sondern den Kundenverkehr einen Tag beobachten, um dann zu entscheiden, welchen Pachtzins er meinem Vater zahlt. Es kam ja niemand mehr ins Geschäft! Das war ein großer Betrug! Nachdem der Kellner das Geschäft übernommen hatte, sind alle SA Leute Tag und Nacht im Lokal gesessen. Die Küche wurde als Gaststube ausgebaut, tagsüber serviert er und seine Frau nachts. Meine Großmutter war Gott sei Dank noch vor den Nazis gestorben, die hat das nicht mehr miterlebt.

Meine Eltern konnten die Wohnung nicht mehr bezahlen, und wir sind an den Stadtrand gezogen. Unser Glück war, dass wir den Bruder meines Vaters hatten, der uns weiter aus Brasilien monatlich Geld schickte.

Ich war ein Jahr arbeitslos. Sonntags bin ich mit dem Radl zu Hans gefahren, obwohl ich manchmal nicht wusste, ob er überhaupt zu Hause ist. Aber ich hab gewusst, unter der Matte ist immer der Wohnungsschlüssel. Ich bin dort hinein gegangen, hab mich zum Fenster gesetzt, sie hatten nur ein Fenster zum Hof hinaus. Beim Fenster ist der Radioapparat gestanden, da hab ich mir Radio Warschau eingestellt, denn da gab es Sonntagmittag immer ein schönes Konzert. Dort hab ich meine Seele baumeln lassen. Ich hab gewusst, es kann mir nichts passieren, weil rundherum Proletarier, lauter Kommunisten und Sozialdemokraten waren.

Bild entfernt.Dann hat unser Rabbiner mir eine Lehrstelle in einem Kolonialwaren-Geschäft besorgt. Ich wollte auch von zu Hause weg, denn ich hab gesehen, die Eltern hatten nichts mehr zu essen. Mein Vater ist mit mir zum Besitzer des Geschäfts gefahren, aber als sich herausstellte, dass ich mit dem geistig behinderten Kind der Familie in einem Zimmer schlafen sollte, hat mein Vater mich gleich wieder mit nach Hause genommen. Ein paar Monate später hat mir der Rabbiner eine Lehrstelle als Bäcker besorgt. Ich war glücklich, mein Freund Hans war Bäcker, und ich wollte deshalb auch Bäcker werden. Das war schon immer mein Traum, das zu machen, was er macht, denn wir waren ja ein Herz und eine Seele.

Der Bäcker war Jude, aber in der Backstube arbeitete ein Nazi, der hat nur auf die Arisierung gewartet. Was ich gelernt hab, hab ich nur vom Zuschauen und vom eigenen Üben gelernt. Kostgeld haben meine Eltern zahlen müssen, die Schmutzwäsche habe ich per Post nach Hause schicken müssen, essen musste ich bei einer Bekannten. Mit einem jungen Mann, den ich kennen gelernt hatte, bin ich sonntags mit dem Rad auf die Dörfer zu den Bauern gefahren. Wir wussten, bei denen wird uns nichts passieren. Einmal erzählte er, dass es in der Nähe von Königsberg eine zionistische Organisation gäbe. Eines Sonntags sind wir hin gefahren. Dort hat man Vorträge gehalten, gesungen und getanzt - das hat uns gefallen. Wir haben uns einschreiben lassen als Chalutz 13. Sie haben gesagt, wir bekommen eine Mitteilung, wann wir auf Hachschara gehen können.

Nach ein paar Wochen ging es los. Wir fuhren nach Oberschlesien, um dort bei Bauern in der Landwirtschaft zu arbeiten, um uns auf das Leben in Palästina vorzubereiten. Wir sind in das Dorf gefahren. In einem jüdischen Geschäft haben wir uns getroffen. Ich kam zu einem Großbauern, der hatte auch eine Gastwirtschaft. Meine Aufgabe war, zehn Mastochsen zu füttern und den Stall sauber zu halten. Ich hatte Angst vor den Ochsen, aber der Bauer sagte, dass ein Mastochse gutmütig wie ein Lamm sei.

Ich hab meine Arbeit gemacht. Bei jedem Verkauf habe ich drei Mark Futtergeld von dem Kunden dafür bekommen, weil ich die Ochsen gepflegt und gefüttert hatte. Ich war glücklich! Eines Tages rief mich der Bauer in die Gastwirtschaft und sagte, dass ich nicht bei ihm bleiben kann, weil seine Kunden ihm gedroht hätten, seine Gastwirtschaft nicht mehr zu besuchen, solange er einen Juden beschäftige. Der Altbauer gab mir zum Abschied eine Zigarre und sagte: 'Ich weiß, wie dir jetzt zumute ist, und ich kann dir nur geben, was ich besitze. Ich kriege jedes Jahr von meinem Sohn ein Kisterl Zigarren. Und diese Zigarre will ich dir mitgeben. Wenn dir sehr, sehr bitter ums Herz ist, dann nimm die Zigarre und denk daran, dass nicht alle Deutschen so sind, wie du jetzt glaubst.'

Ich fand einen anderen Bauern in Golenic, in Oberschlesien. Da habe ich mich in der Gruppe sehr wohl gefühlt und Alfred Rosettenstein kennen gelernt. Er war der Leiter unserer Gruppe, kam aus Frankfurt an der Oder und war ein glühender Zionist.. Er lebte später in Palästina in einem Moschaw 14. Eines Tages ist die Mitteilung gekommen, unsere ganze Gruppe wird aufgelöst, und wir gehen nach Jugoslawien auf Hachschara.

Ich bin nach Hause gefahren, das war 1937. Mein Vater hat einen Reisepass für mich beantragt und nach acht Tagen war der Pass fertig. Der Polizeikommissar sagte zum Abschied: 'Ich wünsch Ihrem Sohn viel, viel Glück und Erfolg in seinem Leben, und er soll etwas anderes kennen lernen als das, was wir jetzt hier haben.'

Die anderen waren schon alle drüben in Jugoslawien, ich bin als einziger nachgefahren. In Subotica, an der ungarisch-jugoslawischen Grenze, besaß der jüdische Baron Gutmann viele Güter und Ländereien. Er hat ein Gut den deutschen Hechalutz [Anm.: Pioniere, Neuankömmlinge] zur Bewirtschaftung zur Verfügung gestellt mit der Auflage, den ungarischen Inspektor und die jugoslawische Knechte weiter zu beschäftigen. Wir waren 120 Burschen und Mädels dort. Wir hatten das ganze Gut zur Bewirtschaftung mit Weintrauben und mit Äckern. Ein Jahr hab ich mit zwei Pferden gearbeitet, daher meine Liebe zu den Pferden, bis heute noch. Das zweite Jahr war ich kurze Zeit in der Küche, dann in der Bäckerei. Der Backofen war draußen und wurde mit Holz geheizt. Ich habe Holz spalten müssen, den Ofen heizen, dann wurde das alles hinaus gekehrt, auch die ganze Glut, dann erst ist das Brot hinein geschoben worden. Das war eine leichte Arbeit, fünf bis sechs Stunden am Tag. Wichtig war, dass immer Brot da war. Das waren die zwei schönsten und unbeschwertesten Jahre, die ich erlebt habe.

Kurz nachdem ich nach Jugoslawien gekommen bin, hat mein Bruder meinen Eltern ein Permit für England beschafft. Sie sind im Januar 1939 nach England emigriert. Der Onkel aus Brasilien hat sich über die englische Firma um meine Eltern gekümmert und ihnen eine Wohnung besorgt. Aber 1942 ist der Onkel gestorben. Da ist dann der Kontakt mit Südamerika vollkommen abgebrochen. Meine Eltern sind beide noch während des Krieges in den 1940er- Jahren gestorben. Mein Vater ist in Hull und die Mama ist in Nottingham begraben. Ich weiß aber nicht genau wo, auf welchen Friedhöfen.

Die Reise nach Palästina

Bild entfernt.Nach zwei Jahren in Jugoslawien war dann eine Möglichkeit, illegal nach Palästina zu kommen. Das abenteuerliche war, dass wir acht Tage in Jugoslawien untertauchen mussten. Wir hatten ein Einreisevisum für Ecuador. In Prag war ein jüdischer Konsul aus Ecuador und jugoslawische Jugendliche, die mit uns auf Hachschara waren, sind über die grüne Grenze mit unseren Pässen nach Prag zu diesem Konsul gegangen. Er hat Einreisevisa nach Ecuador hineingestempelt mit der Auflage, wenn wir aufs Schiff kommen, müssen diese Pässe vernichtet werden, damit er kein Risiko eingeht. Wir hatten auch noch für 500 jüdischen Chalutzim aus der Tschechoslowakei die Ausreise von Jugoslawien nach Ecuador organisiert. In Suschak [heute Kroatien] ist jemand von der jüdischen Gemeinde gekommen und hat gesagt, die Tschechen sitzen an der Grenze fest. Die sind in versiegelten Eisenbahnwaggons, man weiß nicht, was die Deutschen vorhaben mit ihnen. Wir können in der Synagoge auf Strohsäcken schlafen und so lange bleiben, bis die Tschechen kommen. Wir haben über eine Woche in der Synagoge gehaust. Niemand durfte ans Fenster gehen, niemand durfte aufs Stiegenhaus gehen. Die Gemeinde hat für uns gesorgt, für Literatur und sogar für Spiele. Endlich war es soweit! Wir hatten den Polizeikommissar von Suschak mit Geld bestochen und sind dann heimlich, mit Wissen des Kapitäns und der Matrosen, auf das griechische Schiff Galiläa und haben uns im Maschinenraum versteckt. Als die 500 Tschechen kamen, ist der Zug mit dem plombierten Waggon bis in den Hafen herein gekommen, bis zu dem Schiff. Wir hätten die 500 Tschechen sonst gar nicht einschleusen können.

Im Laderaum des Schiffes waren Stockbetten für uns - drei Stock hoch - aber sehr eng. Wenn man sich auf den Bauch gelegt hat, musste man auf dem Bauch liegen bleiben. Die Luft war schrecklich. Am Abend war schon der Schliach [hebr.: Gruppenleiter] am Schiff, er war aus Palästina. Ich meldete mich, während der ganzen Überfahrt Nachtwache zu halten und konnte am Tag in den Mädchenkabinen schlafen, die wesentlich angenehmer waren. Man bekam außerdem bessere Verpflegung. Eine lebende Kuh fuhr als Reserveverpflegung mit. Sie wurde schon am dritten Tag geschlachtet. Ein Fleischhauer, einer von uns, hat die Kuh zerteilt und vor der Küche die Rinderhälften aufgehängt. Wir sollten nachts aufpassen, dass keiner etwas stiehlt. Auf einmal, mitten in der Nacht, kamen Matrosen mit einem großen Küchenmesser. Einer ging zu dem Fleisch und schnitt sich ein Stück ab. Dann kamen viele, aber wir hatten Angst vor denen. Sie luden uns dann zu den herrlichen Steaks ein.

Am siebenten Morgen waren wir in englischen Gewässern, da kam ein Funkspruch, dass wir noch einen Tag außerhalb kreuzen müssen. Wir durften erst bei Einbrechen der Dunkelheit an die Küste kommen, dort sollte ein rotes Licht gesendet werden, auf das wir dann zufahren sollten. Wir wurden in Gruppen zu je 25 Mann eingeteilt. Es gab sechs Rettungsboote, also 25 Mann Boot eins, 25 Mann Boot zwei und so weiter. Als es dunkel war, ruderten die Matrosen uns ans Ufer. Dort standen Leute von der Haganah 15 bis zum Bauch im Wasser. Wir sind heraus gesprungen und sie haben uns ans Ufer gebracht. Am Ufer haben wir uns alle flach hinlegen müssen, das hat vielleicht drei Stunden gedauert.

Wir waren glücklich. Die Kavallerie hat uns eskortiert, keiner durfte sprechen oder ein Zigarette anzünden. So kamen wir in einen Pardess [Anm.: Orangenhain], da gab es eine große Lagerhalle. Zuerst bekamen wir heißen Tee und Zigaretten. Wir haben uns ein bisschen ausgeruht und sind dann in einen Moschaw geführt worden. Es war mitten in der Nacht, da ist die ganze Bevölkerung des Moschaw auf dem Marktplatz gestanden, und jeder hat zwei oder drei von uns mit zu sich nach Hause genommen.

In der Früh gab es ein riesengroßes Frühstück mit Kaffee, Tee, Oliven, Käse und Wurst. Dann sind verdunkelte Autobusse mit zugezogenen Scheiben gekommen, die uns nach Ramat Gan bei Tel Aviv zu mehreren Familien brachten. Dort sind wir phantastisch aufgenommen worden; ich war bei einem polnischen Ehepaar. Er war Beamter im Sekretariat in der Knesset [Parlament] in Tel Aviv. Wir bekamen gefälschte Identitätskarten, wegen der englischen Militärkontrollen. Dann ging es weiter.

In Palästina

Bild entfernt.Ich wollte in einen Kibbutz, in dem meine Leute aus Jugoslawien waren. Ich kam nach Magdiel, das war ein kleiner Kibbutz ohne eigenes Land. Die Kibbutzniks haben nur auf Außenarbeit in den Pardessim gearbeitet. Am nächsten Morgen bekam ich eine kleine Hacke, und wir wurden in einen Orangenhain geführt. Wir waren eine Gruppe Chaluzim und eine Gruppe Araber. Jeder hatte eine Reihe von Bäumen unter denen man hacken und Unkraut jäten musste. Und man musste einen Wall um den Baum bauen für die Bewässerung. Ich hab gedacht, ich hack mir die Lunge raus. Mittags waren es 34 bis 35 Grad, ich hab nicht mehr können und mich flach unter einen Baum gelegt. Aber alles andere konnte ich auch nicht. Da haben sie nicht mehr gewusst, was sie mit mir machen sollen. Sie sind auf die glorreiche Idee gekommen, dass ich in Tel Aviv auf dem Güterbahnhof Waggons ausladen könnte. Das waren Waggons mit Mehlsäcken zu je 75 Kilo. Wir mussten gebückt herunter gehen, und der Sack wurde auf unsere Rücken gelegt. Die haben mir den ersten Sack auf den Rücken gelegt, und ich bin immer kleiner geworden. Da hat einer gesagt: 'Geh, geh, verschwinde, setz dich in den Schatten, rauche eine Zigarette, am Abend fährst du wieder mit uns zurück.' Das war mein Debüt bei der Eisenbahn in Tel Aviv.

Eines Tages saß ich im Kibbutz beim Mittagessen im Speisesaal, da fiel meinem Gegenüber der Teig des Brotlaibes in die Suppe, die Rinde hielt er noch in der Hand. Ich habe natürlich angefangen zu lachen, denn das sah urkomisch aus. Der schaute mich böse an und sagte: 'Wer bist du?' Und ich erzählte ihm, dass ich noch keinen Arbeitsplatz habe und eigentlich Bäcker sei. Am nächsten Tag ging ich in die Bäckerei. Es war eine schöne Bäckerei mit einer Mischmaschine, einem Ofen und einer Gasheizung. Ein junger Rumäne war der Bäcker, der hatte keine Ahnung. Er hat den Teig nicht geknetet, sonder nur in die Teigmaschine gegeben. Ich habe mich sehr gewundert darüber. In drei Stunden war er fertig mit dem Brot. Der Mann fragte mich am nächsten Tag, ob ich in der Bäckerei gewesen sei und ob ich es besser machen könne. Ich sagte ihm, dass ich das schon besser könne, und er sagte: 'Dann arbeitest du ab Morgen in der Bäckerei.' Ich habe dann gutes Brot in der Bäckerei gebacken, und alle waren zufrieden.

Ich wollte aber nach einiger Zeit nicht mehr im Kibbutz leben und begann mich auf die Suche nach einem Zimmer zu machen. Durch eine Bekannte lernte ich Hans Rosenberg, einen gebürtigen Berliner, kennen. Er lebte mit seiner Frau Esther, die eine gebürtige Ungarin war, und den kleinen Töchtern in einem Häuschen in Kiryat Chaim. Ich konnte bei ihm in einem Zweibettzimmer ein Bett mieten. Wir haben uns dann sehr befreundet. Er hat mir bei vielem geholfen. Als ich 1948 zur Armee eingezogen wurde, konnte meine Frau mit in dem Haus wohnen. Seine Frau Esther starb in den 1950er-Jahren an Krebs in Israel, und er ging 1957 zurück nach Berlin. Seine Töchter blieben in Israel.

Ich fand Arbeit in Kiryat Motzkin. Dort war das englische Versorgungslager für die Truppen in der Wüste, die gegen die Deutschen kämpften. Es wurden immer Leute zum Aufladen und zum Sortieren gebraucht, denn dort waren Stahl, Holz, Bretter, Teerfässer, Stacheldraht und alles mögliche gelagert. Mein Bettnachbar Arie hat mir sehr geholfen, er war auch wie ich in der Holzabteilung. Arie liebte das Meer. Davor war er in einem Kibbuz am Meer, da hatte er bei der Fischereiflotte gearbeitet. Er hatte immer Sehnsucht nach dem Meer. Eines Tages ging er nach Tel Aviv und kaufte mit ein paar Arabern zusammen ein altes Fischerboot. Das Boot ging bei einem Sturm unter, Arie war zum Glück nicht an Bord. Ich habe ihm Geld gegeben und bei Freunden Geld gesammelt, damit er sich einen neuen Kutter kaufen konnte. Mit diesem Kutter hat er dann Munition für die englische Marine transportiert. Er ist später zur Shoham Kompanie, der israelischen Schifffahrtsgesellschaft, in Haifa gegangen. Dort hat er als Matrose angeheuert auf einem Frachtschiff und es bis zum Marineoffizier gebracht.

Bild entfernt.Ich habe mein Zimmer bei den Rosenbergs gekündigt und im Camp geschlafen. Im Camp habe ich auch Kurt Holzhacker kennen gelernt, meinen zukünftigen Schwager. Er hat auf einem schweren Kran gearbeitet. Ich besaß ein Koffergrammophon mit zwölf Schallplatten - das war mein ganzes Vermögen. Ich habe das Grammophon aber nicht ins Camp mitnehmen können, das hatte ich bei den Rosenbergs gelassen. Am Abend, wenn ich frei hatte, bin ich zu den Rosenbergs gegangen, die hatten eine Terrasse vor dem Haus. Abends trafen sich auf der Terrasse manchmal zehn Leute, die Wiener Lieder gesungen, geweint und getanzt haben. Eines Tages kam ein Mädel dazu. Ich stand und drehte an meinem Koffergrammophon, und sie fing an zu tanzen. Schon der erste Blick hat mich berauscht. Eine fesche Figur, lustig, temperamentvoll, aber ich habe mich nicht getraut, sie anzusprechen. Ich hab nicht gewusst, zu wem sie gehört, wer sie ist. Dann hat sie mich zum Tanzen aufgefordert, und ich habe mich in sie verliebt. Sie hieß Gertrude und war die Schwester von Kurt Holzhacker aus Wien. In Wien war sie Lehrling in der Strickerei Altmann, hatte nach ihrer Lehre aber keine Arbeit gefunden und war 1933 nach Palästina gegangen.

Zwei Tage waren immer Badeferien für uns, dann sind wir nach Nahariya gefahren. Es gab in Nahariya eine besonders gute Konditorei: Gretel Mayer war eine Wienerin, und sie konnte echten Wiener Eiskaffee und echte Wiener Apfelstrudel machen. Nach dem Baden haben wir uns das manchmal geleistet. Nahariya war blitzsauber. Da gibt es diesen Witz über die Jekkes [deutsche Juden]: Kommt ein Ausländer nach Israel und man führt ihn zu den Sehenswürdigkeiten, und sie kommen auch nach Nahariya. Da wird gerade ein neues Haus gebaut. Die Leute stehen auf den Absätzen und schupfen immer die Ziegel rauf: sch.., sch.., sch.... Sagt der Besucher: 'Das sind doch Maurer?' 'Ja', sagt der Touristenführer. 'Und was machen die immer für ein Geräusche: sch.., sch.., sch.., bei jedem Ziegelstein?' 'Das wissen Sie nicht? Dankeschön, Bitteschön, Dankeschön, Bitteschön.' Das waren die Späße in Nahariya, denn dort war alles jekkisch: alle Restaurants, alle Geschäfte - alles Jekkes. Und es hat auch danach ausgesehen: tadellos!

Der israelische Staat wurde 1948 ausgerufen. Alles hat getanzt auf den Straßen, und wir beide sind draußen gestanden. Ich habe gesagt: 'Trude, dabei kommt nichts Gutes heraus. Ich kann nicht mit den Menschen tanzen, wer weiß, was werden wird.' Nach kurzer Zeit mussten alle zum Militär, da haben wir aus finanziellen Gründen geheiratet. Alle Freunde kamen. In der Wohnung des Rebben wurde eine Chuppe aufgestellt. Dann sagte der Rebbe: 'Oi weh, es geht nicht, wir sind nur neun Minjen 16, wir brauchen zehn, einen müssen wir noch auftreiben.' Mein Freund Moische holte einfach jemanden von der Straße. Der Rebbe begann hebräisch zu reden: 'Wie heißt du?' 'Herbert Lewin.' 'Und dein jüdische Name?' 'Zwi!' Und wie heißt du?' 'Gertrude Holzhacker!' 'Das gibt es nicht. Wie ist dein jüdischer Name?' 'Ich habe keinen.' 'Dann bist du auch keine Jüdin.' 'Ich bin Jüdin!' Die haben hin - und herverhandelt, bis sie sich dann geeinigt haben auf Halbjüdin. Die Trude hat gesagt: 'Was soll ich machen, ich hab keinen jüdischen Namen!'

Bild entfernt.Trude hat mich während meiner Militärzeit oft besucht. Als ich 1950 aus dem Militär entlassen wurde, wollte Trude nach Wien zurück, und ich wollte mit ihr gehen. Mein Freund Arie hat mir dann aber einen Job als Koch auf einem Schiff besorgt. Ich war fünf Jahre auf dem Schiff, und die Trude war in Haifa. Es war harte Arbeit. Ich hatte einen Arbeitstag von 18 Stunden am Tag, sonntags und auch feiertags. Es war ein Passagierschiff, wir haben auch KZ-Entlassene nach Israel gebracht. Das waren manchmal fünfhundert Menschen. Alle zwölf Tage war ich zu Hause, und manchmal haben wir nur soviel Zeit zu Hause, dass ich mit einem Taxi kam, schnell die schmutzige Wäsche gegen die saubere tauschte.

Die Rückkehr

Wir ließen uns in Israel wieder scheiden, damit Trude nicht israelische Staatsbürgerin wird und ihre österreichische Staatsbürgerschaft verliert. Meine Frau brauchte im Radio nur hören 'An der schönen blauen Donau', sind ihr die Tränen gelaufen. Sie hat sehr gelitten unter Heimweh, sehr gelitten. Es war kompliziert für mich, einen deutschen Pass zu bekommen, aber es ist uns gelungen.

Wir sind 1955 von Israel mit dem Schiff nach Italien und mit dem Zug über den Brenner-Pass nach Wien gefahren. Im Oktober 1955, gerade zur Wiedereröffnung der Oper, sind wir in Wien angekommen. Viele Jahre war ich in Österreich Ausländer und musste mich regelmäßig bei der Polizei melden. Mein Schwager, Kurt Holzhacker, hatte für mich gebürgt. Er ist in Palästina zum englischen Militär gegangen, hat dann abgerüstet in Holland und ist direkt von Holland nach Wien gegangen, das konnte man machen. Nachher habe ich über seine KPÖ [Anm.: Kommunistische Partei Österreichs] Zugehörigkeit erfahren. Ich glaube, dadurch hatte ich große Schwierigkeiten. Wenn meine Aufenthaltsbewilligung abgelaufen war, musste ich die Arbeitsbewilligung einreichen. Die haben sie mir aber nur erteilt, wenn ich die Aufenthaltsbewilligung gebracht habe. Das ist jedes halbe Jahr so gegangen, hin und her.

Mein späterer Chef war auch Genosse, der hat einen Betrieb übernommen von den USIA Betrieben 17 und der ist für mich beim Arbeitsamt sehr stark eingetreten. Einmal ging Trude in die Bäckerstraße, da war wieder meine Aufenthaltsbewilligung zu Ende und danach hat sie gesagt: 'Geh nicht auf die Fremdenpolizei, ich war da und hab geglaubt, Nazis vor mir zu sehen. Sie haben mich behandelt wie ein Stück Dreck. Ich gehe jetzt ins Innenministerium und spreche dort mit dem Innenminister.' Als sie zurückkam, war sie völlig verweint und sagte: 'Weißt du, was die mich gefragt haben? Ob ich so blöd bin oder mich nur so blöd anstelle, du seiest schon längst ausgewiesen, du bist gar nicht mehr da!' Dann sind wir zur Kultusgemeinde gegangen. Die haben uns einen Rechtsanwalt empfohlen, und durch den habe ich dann die österreichische Staatsbürgerschaft nach einiger Zeit erhalten. Die ersten zehn Jahre in Österreich habe ich als Warenüberprüfer in der Lagerhaltung der gewerblichen Warenüberprüfung Controlla gearbeitet, und die nächsten zehn Jahre bei der Spedition Express. Meine Frau Gertrude hat als Bedienerin und als Telefonistin gearbeitet. Sie starb im März 2001.

Ich war nie wieder in Osterode, aber mein Neffe war dort. Ich wollte, aber es ist nicht dazu gekommen. Jetzt ist es schon zu spät, meine Augen sehen schlecht. Mein Neffe sagt, das ist phantastisch aufgebaut, großartig, wieder nach alten Plänen, aber mit komplett neuen Häusern. Eine Strandanlage gibt es, um die ganze Drweckie-Bucht haben sie eine Strandpromenade. Dort ist er gesessen mit seiner Frau und dem Kind, und sie haben Kaffee getrunken.

Meine Nichte in Wien hat eine Schulfreundin, die einen ganz streng orthodoxen Mann geheiratet hat. Sie haben zwei sehr hübsche Töchter, die gehen ins jüdische Gymnasium. Sie lebt jetzt getrennt von ihrem Mann, er kommt aber jeden Freitag zum Freitagsgebet. Ich war einmal zum Sederabend 18 bei der Freundin meiner Nichte eingeladen. Mein Neffe, der Hansi und meine Nichte, die Maria, sind mit mir zusammen nach Döbling gefahren. Eine polnische Jüdin, eine alleinstehende Dame, die sehr fromm ist, war auch eingeladen. Der Ehemann der Freundin trug Pejes 19 und einen Bart, und jeder hat eine Kippa 20 bekommen. Jeder bekam die Hagadah 21 hebräisch- deutsch, diese polnische Dame bekam hebräisch-polnisch. Und der Mann der Freundin meiner Nichte begann zu beten. Ich habe nur noch gewusst: Ma nisch'tana halajla haze [hebr. Gebet zu Pessach: Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?] Der Mann sagte zu mir: 'Du kannst es doch, du bist doch eh a Jid!'
 

Glossar

1 Scheitl [Scheitel]

Die von orthodox-jüdischen Frauen getragene Perücke.

2 Schabbat, Schabbes [hebr

: Ruhepause]: der siebente Wochentag, der von Gott geheiligt ist, erinnert an das Ruhen Gottes am siebenten Tag der Schöpfungswoche. Am Schabbat ist jegliche Arbeit verboten. Er soll dem Gottesfürchtigen dazu dienen, Zeit mit Gott zu verbringen. Der Schabbat beginnt am Freitagabend und endet am Samstagabend.

3 Trefe

Nicht koscher, unrein im Sinn der jüdischen Speisegesetze.

4 [Die] Hohen Feiertage

Rosch Haschana [Neujahrsfest] und Jom Kippur [Versöhnungstag]

5 Koscher [hebr

: rein, tauglich]: den jüdischen Speisegesetzen entsprechend.

6 Kaddisch [hebr

: kadosch = heilig]: Jüdisches Gebet zur Lobpreisung Gottes. Das Kaddisch wird auch zum Totengedenken gesprochen.

7 Torah [hebr

Lehre, Gesetz]: Teil des Tanach [Altes Testament]. Die Torah besteht aus den fünf Büchern Mose [Pentateuch]. Mit 'Torah' wird oft die Torahrolle gemeint. Dies ist eine große Rolle aus Pergament, auf der die fünf Bücher Mose in Hebräisch von Hand aufgeschrieben sind. Torahrollen werden in der Synagoge aufbewahrt.

8 Rosch Haschana [heb

: Kopf des Jahres]: das jüdische Neujahrsfest. Rosch Haschanah fällt nach dem jüdischen Kalender auf den 1. Tischri, der nach dem gregorianischen Kalender auf Ende September oder in die erste Hälfte des Oktober fällt.

9 Pessach

Jüdisches Fest, erinnert an den Auszug des jüdischen Volkes aus Ägypten, welcher die 200 Jahre währende Knechtschaft beendete. Jegliche gesäuerte Speise [Chamez] ist verboten, und so wird ungesäuertes Brot (Mazza) verzehrt.

10 Chuppe [jidd

; hebr.: Chuppa]: der Traubaldachin bei einer jüdischen Hochzeit - bedeutet das "Dach über dem Kopf" und besagt, dass ein Haus gegründet wird.

11 Hachschara (hebr

für Vorbereitung, Tauglichmachung) bezeichnete die gezielte und organisierte Vorbereitung von Juden auf die Einwanderung, die Besiedelung Palästinas. Im Regelfall fanden Hachscharakurse auf landwirtschaftlichen Gütern statt.

12 Permit [engl

: Erlaubnis]: Visum, Einreisegenehmigung

13 Chalutz - (Mz

: Chalutzim), der jüdische Pionier im Jischuw. Chalutzim erwarben Land, machten es urbar, bauten Strassen und neue Siedlungen.

14 Moschaw

Als Moschaw bezeichnet man eine genossenschaftlich organisierte ländliche Siedlung in Israel. Anders als im Kibbuz waren individuelle Interessen und Bedürfnisse und vor allem Privateigentum nicht verpönt. Jede Familie führte ihren eigenen Haushalt. Die Maschinen waren gemeinsames Eigentum; auch der Einkauf und der Verkauf von Produkten wurden gemeinschaftlich vorgenommen. Die Entscheidung, was angebaut werden sollte, lag beim Einzelnen.

15 Hagana [hebr

'Verteidigung]: 1920 gegründete zionistische Militärorganisation in Palästina während des britischen Mandats [1920- 1948], die Juden vor arabischen Überfällen schützen sollte. Die Hagana unterstand der Histadrut [Gewerkschaft]. Sie wurde so zum Vorläufer der israelischen Armee, in der sie nach der Staatsgründung aufging.

16 Minjan [hebr

: Zahl]: Ausdruck für die Anzahl von mindestens zehn erwachsenen männlichen Betern, mit der sich eine Gemeinde konstituiert. Diese Anzahl ist für einen öffentlichen Gemeindegottesdienst notwendig.

17 USIA [russ

Verwaltung des sowjetischen Vermögens in Österreich]: Am 5. Juli 1946 wurden in der sowjetischen Besatzungszone mehr als 300 Industriebetriebe und 140 land- und forstwirtschaftliche Besitzungen als ehemaliges deutsches Eigentum beschlagnahmt. Der USIA-Konzern, dem auch zahlreiche nach 1938 arisierte Betriebe zugeschlagen wurden, dominierte mit 53.000 Beschäftigten [1955] die für das gesamte Österreich wichtigen Schlüsselindustrie.

18 Seder [hebr

: Ordnung]: wird als Kurzbezeichnung für den Sederabend verwendet. Der Sederabend ist der Auftakt des Pessach-Festes. An ihm wird im Kreis der Familie (oder der Gemeinde) des Auszugs aus Ägypten gedacht.

19 Pejes oder Peies [hebr

Peot]: die jiddische Bezeichnung für die von frommen Juden getragenen Schläfenlocken. Das Tragen des Bartes und der Schläfenlocken geht auf das biblische Verbot zurück, das Gesicht mit scharfen und schneidenden Gegenständen zu berühren.

20 Kippa

Die Kopfbedeckung für den jüdischen Mann wird bei Gebet, religiösem Studium und den Mahlzeiten aufgesetzt, fromme Juden tragen sie auch im Alltag.

21 Hagadah [hebr

'Verkündung/Erzählung']:Büchlein, das am Sederabend beim Festmahl mit der Familie gemeinsam gelesen und gesungen wird. Das Buch beschreibt das Exil in Ägypten und den Auszug in die Freiheit.