Kitty Suschny

Kitty Suschny vor ihrer Emigration nach England im Jahre 1938

Kitty Suschny 
Wien 
Österreich 
Name des Interviewers: Tanja Eckstein 
Datum des Interviews: August 2002 

Kitty Suschny ist eine Frau, die sicher in kaum einer Situation davon abzuhalten ist, ihre Meinung zu äußern.

Sie lebt mit ihrem eher zurückhaltenden Mann Dr. Otto Suschny, den ich ebenfalls interviewte, in einer wunderschönen Jugendstilvilla, im 13. Bezirk.

Sie sind sehr liebe Gastgeber und jederzeit, auch lange nach den Interviews, bereit, mir mit Rat und Tat zur Verfügung zu stehen.



Meine Familiengeschichte

Mein Großvater väterlicherseits hieß Hersch Pistol, und meine Großmutter hieß Ruchel oder Rachel Pistol. Beide wurden in Lemberg geboren, aber der Großvater ist schon im Alter von 20 Jahren nach Wien gekommen. Der Großvater und die Großmutter haben sich wahrscheinlich in Wien kennen gelernt. Sie hatten fünf Kinder: drei Söhne und zwei Töchter.

Den Onkel Samuel Pistol habe ich nicht gekannt, der ist in die Tschechoslowakei gegangen, weil er in Wien nichts verdienen konnte. Später habe ich gehört, er wäre Koch geworden, aber ich weiß es nicht genau.

[Samuel Pistol geb. am 2. August 1885, verheiratet mit Charlotte, geb. 31.Oktober 1879, wurden am 5. Dezember 1941 von Brünn nach Theresienstadt deportiert, von dort am 11.März 1942 nach Izbica [Polen] deportiert. Quelle: Terezinska Pametni Kniha]. 

Onkel Friedrich Pistol war Schauspieler, hat aber angeblich mit der Schauspielerei nie etwas verdient. Er war vor dem Krieg verheiratet, hatte mit seiner Frau zwei Söhne, aber die Ehe wurde vor 1938 geschieden.

Vielleicht weil er nichts verdient hat. Er war zum katholischen Glauben konvertiert, ist aber trotzdem nach Theresienstadt [Ghetto Theresienstadt] deportiert worden. Er hat überlebt und ist im Alter von ungefähr 75 Jahren in Wien gestorben.

Tante Franziska Pistol war mit Walter Schwarz verheiratet. Franziska und Walter Schwarz hatten einen Sohn, den Herbert Schwarz, der 1909 geboren wurde. Sie wohnten auf der Brigittenauer Lände [20. Bezirk], ganz in unserer Nähe.

Mein Onkel war, soviel ich weiß, Sozialarbeiter, damals hat man Fürsorger gesagt, und er war Sozialdemokrat. Er ist 1934, als der Austro-Faschismus 1 gekommen ist, arbeitslos geworden.

Der Sohn Herbert ist nach England emigriert, wurde 1939 interniert und nach Australien deportiert. Herbert Schwarz war verheiratet, seine Frau ist aber nicht weggekommen, sie dürfte umgekommen sein.

Tante Helene Pistol hat Josef Heller geheiratet. Sie hatten eine Tochter, die Sophie, die im Januar 1914 geboren wurde und einen Sohn, den Otto, der im August 1915 geboren wurde.

Beide studierten in Wien Medizin, mussten aber ihr Studium 1938, nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich, abbrechen. Otto und Sophie flohen nach Frankreich. Vom unbesetzten Frankreich ist es Sophie gelungen, durch die Hilfe eines Mönchs, über den Montblanc zu kommen und in die Schweiz zu fliehen.

In der Schweiz hat sie den Krieg überlebt, hat dort geheiratet, aber diese Ehe ist auseinander gegangen. Sie hat dann einen Wiener geheiratet, der hieß Sokal. Er hatte ein Juweliergeschäft.

Otto wurde verhaftet und im KZ Gurs 1, in Frankreich, eingesperrt. Es ist ihm aber bei Außenarbeiten gelungen zu fliehen. Er hat dann als Vertreter gearbeitet, ist nach dem Krieg nach Wien zurückgekommen und beendete sein Studium als Zahnarzt. Er starb vor wenigen Jahren im Alter von 83 Jahren in Wien.

Mein Vater, Doktor Saul Pistol, wurde am 2. März 1876 in Wien geboren. Ich glaube, nicht nur er, sondern alle Geschwister meines Vaters wurden in Wien geboren.

Meine Großmutter mütterlicherseits hieß Franziska Löwe. Sie wurde am 11. Juni 1868 geboren. Mein Großvater hieß Glaser. Wie er mit dem Vornamen hieß, weiß ich nicht. Er ist 1924, vierzehn Tage vor meiner Geburt, gestorben.

Die Großeltern haben in Bisenz [heute Tschechien], in der Tschechoslowakei, gelebt. Wenn wir zur Großmutter auf Besuch gefahren sind, brauchten wir einen halben Tag von Wien mit der Eisenbahn nach Bisenz, wo es eine Bahnstation gab.

Da ist eine Eisenbahn gefahren, das war ein Koloss von einer Maschine. Die Großmutter hatte ein kleines Geschäft mit Schneiderzubehör, Bandlkramer hat man früher dazu gesagt. In dem Geschäft gab es Nähnadeln, Stecknadeln, Zentimetermaße und Futterstoffe. Außerdem besaß die Großmutter auch Felder.

Meine Großmutter lebte in einem Haus mit einem Vorgarten. In dem Vorgarten war ein bisschen Wein angepflanzt, und es gab auch Gemüse. Auf den Feldern waren ein paar Melonen und Kürbisse, ich glaube, auch Getreide.

Es muss sogar ein Weingarten existiert haben, weil meine Großmutter in der Früh mit einem Sprühgerät ging, Blausäure gegen Ungeziefer versprühen. Sie war eine sehr große kräftige Frau mit Schuhgröße Nummer 42.

Meine Mutter hatte aber nur Schuhgröße 36. Im Haus der Großmutter gab es elektrisches Licht, aber zusätzlich auch Petroleumlampen. Ich glaube, Petroleum war billiger als Strom oder meine Großmutter hat sich vielleicht gefürchtet, weil das elektrische Licht so rasch angeht, denn elektrisches Licht war damals noch eine Neuheit.

Das Klo war natürlich ein Plumpsklo. Vor dem Haus der Großmutter war ein Platz mit einem Brunnen, da hat die ganze Umgebung Wasser geholt.

Meine Mutter war die Älteste der Geschwister. Sie hatte zwei Brüder, die fast zwei Meter groß waren und auch so ungefähr 45er Schuhgröße hatten. Das waren richtige Bauern.

Mein Onkel Alfred Glaser wurde 1895 geboren. Er heiratete Margarete, die wir Tante Grete nannten. Ihr Sohn Pavel wurde 1927 geboren. Die Tante Grete hat Blumen mit Seide auf Taschen gestickt.

Immer, wenn meine Mutter zu Besuch war, nahm sie einige Taschen nach Wien und verkaufte sie für Tante Grete an Freundinnen. Einmal im Jahr, für drei Monate, arbeitete Grete auch als Buchhalterin für einen Zuckerbäcker.

Das war aber nur so eine Saisongeschichte, dadurch hat sie ein bisschen Geld verdient. Onkel Alfred mit seiner Familie und meine Großmutter, die immer viele Röcke übereinander trug, haben in dem Haus zusammen gelebt.

Sie hatten eine Ziege für die Milch und Hühner für Eier. Ich habe mich vor den Hühnern gefürchtet, weil ich glaubte, sie werden mich mit ihren spitzen Schnäbeln picken. Der Onkel Alfred besaß ein Pferdefuhrwerk mit zwei Pferden und hat mit meiner Großmutter alles allein bewirtschaftet. Für Hilfen hatten sie kein Geld.

Vielleicht haben sie aber tageweise jemanden beschäftigt, der dann im Stall bei den Tieren im Stroh übernachtete, das war früher so üblich. Die Großmutter war sehr fleißig, aber wohlhabend sind sie nie geworden. Sie konnten sich gerade einigermaßen erhalten.

Josef Glaser, Joschi ist er genannt worden, wurde 1902 geboren. Er hat reich geheiratet. Ich weiß, dass mehrere Tage für die Hochzeit gekocht wurde. Seine Frau hieß Martha und war aus Nikolsburg [heute Tschechien], an der österreichischen Grenze.

Die Familie hatte eine Branntweinbrennerei, eine Branntweinstube und Felder. Was der Joschi aber nicht gewusst hat war, dass seine Frau ihm nichts abgeben wird.

Sogar ihr Vater war ziemlich geizig. Er hatte vor dem I. Weltkrieg ein Bein verloren und eine Holzprothese, die aber sicher die teuerste Prothese war, die es damals gegeben hat.

Meine Mutter Malwine ist am 18. Januar 1893 in Bisenz geboren. Sie hat eine Hauswirtschaftsschule besucht, in der man auch kochen gelernt hat. Das war eine deutsche Schule, da schickten wohlhabende Leute, die interessiert an deutschen Schulen waren, ihre Kinder hin.

Alle, meine Großmutter, meine zwei Onkeln und Tanten und mein Cousin Pavel wurden am 31. Januar 1943 von Uhersky Brod nach Theresienstadt deportiert und am 1. Februar 1943 weiter nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Mein Vater war im 1. Weltkrieg Offizier und meine Mutter war Rot-Kreuz- Schwester. Ich nehme an, dadurch werden sich meine Eltern kennen gelernt haben. Mein Vater war 17 Jahre älter als meine Mutter.

Sie haben dann am 9. September 1919 geheiratet. Wo meine Eltern geheiratet haben, weiß ich nicht, aber wir haben im 2. Bezirk in Wien, am Gaußplatz Nummer 3, gewohnt.

Die anderen Häuser des Gaußplatzes gehörten zum 20. Bezirk, die Nummer 3 gehörte zum 2. Bezirk. In unserem Haus war die Mathilden-Apotheke. Der Apotheker hat sich 1938 umgebracht, Altschul hat er geheißen. Der andere Pharmazeut hieß Nussbaum. Er hatte zwei Töchter, die sind nach England oder Amerika emigriert.

  • Meine Kindheit

Meine Großeltern väterlicherseits hatten im selben Haus gewohnt wie wir, auf Tür Nummer 15. Aber sie waren schon tot, als ich geboren wurde. In unserer Zweieinhalbzimmerwohnung war die Arzt-Praxis meines Vaters und bis ich ein Jahr alt war, unsere Wohnung.

Dann konnten wir im selben Haus, auf Tür Nummer 22, noch eine Wohnung mieten.

Aber auf Tür Nummer 15 befand sich weiterhin unser Speisezimmer. Klo und Wasser waren am Gang. Das war damals in 90 Prozent der Wohnungen so, vor allem in den Arbeiterbezirken.

Dass man Wanzen und sonstige Tiere in der Wohnung hatte, das war damals normal. Man konnte noch so sauber sein und aufpassen, das war eine Pest damals. Man hat sich geniert dafür und meine Mutter hatte eine Klistierspritze, in der irgendetwas gegen die Wanzen drin war.

In unserem Haus wohnten viele jüdische Familien. Unsere Nachbarin Frau Letfuß war Sozialdemokratin, ihre Schwester war mit einem jüdischen Kellner vom Café Neptun verheiratet. Das Café Neptun war ein jüdisches Kaffeehaus am Gaußplatz Nummer 7.

Frau Letfuß hatte die ganze Zeit Angst, dass man sie verhaften würde, weil sie Sozialdemokratin war. Ihr Mann war Anstreicher, der Sohn Josef wollte Rechtswissenschaften studieren, hatte aber kein Geld.

Nebenan wohnte eine Jüdin, die Frau Wiesner. Sie war Witwe und hatte zwei Söhne. Ich erinnere mich, dass in dieser Wohnung das Klo innerhalb der Wohnung war und auch das Wasser.

Sie hatten auch ein Badezimmer, da hat das Dienstmädel drin geschlafen. Das Badezimmer war wohnlich eingerichtet, aber es stand eben auch eine Badewanne drin. Wenn die Söhne gebadet haben, hat das Dienstmädchen raus gehen müssen.

Der Bruder von Frau Wiesner hatte ein Teppich- und Vorhanggeschäft, Weinberger hat die Familie geheißen. Frau Wiesner war dort Prokuristin. Neben Frau Wiesner wohnte die jüdische Familie Haas.

Das waren zwei unverheiratete, kleine schwarzhaarige Schwestern mit ihrem Bruder. Der Bruder war auch nicht sehr groß und der jüngste der Geschwister. Seine Schwestern haben ihn betreut, für ihn gekocht und geputzt.

Sie hatten eine Dreizimmerwohnung, jeder hatte sein eigenes Zimmer. Was mit denen passiert ist, weiß ich nicht. Im Eck haben zwei Parteien [Familien] gewohnt, die nicht jüdisch waren.

Im ersten Stock wohnten nur Juden. Da hat es eine Familie gegeben, die waren Pelzhändler. Nettel haben die, glaube ich, geheißen. Und im ersten Stock wohnte eine Familie Taussig.

Im zweiten Stock war die Ordination meines Vaters und links wohnte Frau Schmitz, die die älteste Partei war. Sie war Monarchistin und sehr anständig. Sie hatte eine Schwester in Steinhof 2. Die war auf ihre Schwester losgegangen, sie hatten miteinander gewohnt.

Damals hat man die Menschen viel schneller nach Steinhof gebracht. Mein Vater und ein anderer Arzt mussten das Gutachten schreiben. 1938 hat Frau Schmitz zu meiner Mutter gesagt: 'Stellen sie sich vor, jetzt glaube ich wirklich meine Schwester ist verrückt.

Ich komme sie besuchen in Steinhof, sagt sie: 'Heil Hitler Ida, der Erlöser ist gekommen.' Da habe ich gesagt: 'Du weißt nicht was du sprichst.' Man hat dann die 'Verrückten' dort umgebracht. Ich hab eine weitläufige Cousine gehabt, die Schwester war leider auch in Steinhof, aber die hat sich gefürchtet.

Wenn wir sie besuchen kamen, hat sie gesagt, wir sollen sie da rausnehmen, sie hat Angst, man bringt sie um.

Mein Vater war praktischer Arzt, Frauen - und Kinderarzt, alles zusammen. So etwas gibt es heute nicht mehr. Er hatte in Wien studiert und dürfte noch um die Jahrhundertwende mit seinem Studium fertig geworden sein.

1901 hat er sein Doktorat gemacht und zuerst in einem Spital gearbeitet. Als ich auf die Welt gekommen bin, hat seine Praxis aber bereits bestanden. Ich weiß, dass mein Vater seine Geschwister finanziell unterstützt hat, weil er gesagt hat, seine Geschwister hätten, nur damit er studieren kann, darben müssen.

Inzwischen bin ich aber dahinter gekommen, dass sie deshalb nicht alle studieren konnten, weil sie es leistungsmäßig nicht geschafft hätten.

In der Praxis meines Vaters stand ein Untersuchungsstuhl für Frauen, eine Vitrine mit Instrumenten, eine Couch und eine Höhensonne. So war eine Praxis damals ausgestattet. Die Toilette war in der Praxis, aber es war kein Wasser angeschlossen.

Während der Ordinationszeit hat meine Mutter vom Gang aus Krüge mit Wasser in eine Wanne gegossen, und mein Vater konnte sich die Hände nach jedem Patienten waschen. Wenn das Wasser kalt war, bevor die Patienten gekommen sind, hat mein Vater den Petroleumofen am Gang angemacht, weil der Ofen so gestunken hat.

Nach zehn Minuten konnte man den Krug Wasser hinein stellen, dann hat der Ofen nicht mehr so gestunken. Meine Mutter arbeitete in der Praxis meines Vaters als Ordinationsgehilfin mit.

Es gab auch zwei Schwestern, Rosa und Anna. Die eine putzte und die andere passte auf uns Kinder auf. Das Kochen ließ sich meine Mutter nicht abnehmen.

Die Muttersprache meiner Mutter war, glaube ich eher deutsch. Aber sie sprach auch perfekt tschechisch. Die Cousine meiner Mutter rief jeden Tag um Punkt eins bei uns an, da saß mein Vater schon hungrig am Mittagstisch.

Um zwei Uhr begann wieder seine Arbeit in der Ordination, er hat das Essen herunter schlingen müssen. Er hat dann gesagt: 'Das gibt es nicht, ich sitz und schon läutet das Telefon, das ist deine Cousine.'

Mein Vater hatte Latein gelernt, auch Französisch. Meine Mutter und ihre Cousine haben immer tschechisch miteinander gesprochen und mein Vater, der das nicht verstanden hat, hat dann immer gesagt: 'Die Mama verkauft mich.' Er hat meine Mutter immer gebeten, dass die Cousine um halb zwei anruft, denn da war er dann schon wieder unten in der Ordination.

Mein Bruder hieß Harry, er ist 1920 geboren. Er war etwas kleinwüchsig und hat anscheinend darunter sehr gelitten. Er hat zwar gut gelernt, aber er war immer ein bisschen eifersüchtig auf mich und hat mich immer gehaut.

Als ich geboren wurde und man ihm sagte, dass er eine Schwester habe, sagte er, die wolle er nicht, die will er aus dem Fenster schmeißen. Und wenn keiner geschaut hat, hat er mich gehaut. Wir hießen Harry und Kitty, als hätte meine Mutter eine Ahnung gehabt, dass wir einmal nach England emigrieren müssten.

Ich bin also am Gaußplatz aufgewachsen. Vor der Tür war ein Park, Schulfreundinnen und andere Nachbarskinder haben da unten gespielt. 1935 bin ich einmal weinend nach Hause gekommen, konnte stundenlang nicht sagen, warum ich weine.

Meine Mutter hat gefragt: 'Hat dir jemand etwas getan, hat dich jemand geschlagen?' Und ich habe nicht zu weinen aufgehört. Ich hatte gesehen, wie berittene Polizei in Arbeitslose hineingeritten war und wie danach ein blutiger Haufen dort lag.

Das war natürlich schrecklich. Ich war elf Jahre alt und es war ein Schock. Meine Mutter hat Stunden gebraucht, um das aus mir herauszubekommen. Sie sagte dann, das wäre vielleicht nicht so ernst gewesen, wie ich es gesehen hätte.

'Aber das Blut ist doch ernst', habe ich gesagt. Sie sagte: 'Ja, wer weiß, vielleicht waren das Verbrecher.' Aber meine Mutter hat gewusst, was ich gesehen hatte. Die Arbeitslosen hatten mit Münzen und Würfeln gespielt, und ohne sie zu warnen, waren die Polizisten in sie hineingeritten. Das Gras war dann rot statt grün, das war für mich ein Albtraum.

Wir haben irgendwo in Österreich Sommerfrische gehabt, ich weiß nicht mehr genau wo das war. Mein Vater ist uns tageweise besuchen gekommen, denn er konnte es sich nicht leisten, längere Zeit Urlaub zu machen. In Kärnten waren wir einmal, da war ein See.

Mein Vater hat immer meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter, mitgebracht. Jeder hat gesagt: Was für ein guter Schwiegersohn! Einmal sind wir mit einem Boot gefahren, es war windig und meine Großmutter ist seekrank geworden. Mein Vater hat sie dann zur Bahn gebracht, damit sie nach Hause fahren kann. Sie hat natürlich sehr gut deutsch gesprochen, man hat bei ihr zu Hause mehr deutsch als tschechisch gesprochen.

Meine Mutter erzählte mir, dass wir einmal wegen des christlichen Kinderfräuleins einen Weihnachtsbaum hatten. Ich hätte dann furchtbar geweint, als meine Mutter nach Wochen den Baum weggeschafft hat.

Daraufhin hätte sie gesagt: 'Nie mehr kaufe ich einen Weihnachtsbaum.' Da bin ich dann zu den Nachbarn gegangen, die haben mich gekannt und haben gesagt: 'Komm, ihr habt ja keinen Baum, also komm zu uns!'

Mein Vater hat sehr viel gearbeitet. Er musste auch öfters nachts aufstehen und hatte auch kein Wochenende. Jeden Tag um sieben Uhr in der Früh ist er aufgestanden und auf Visiten gegangen. Auch Hausgeburten hat er gemacht. Ich hab später in England einen Mann getroffen, der hat gesagt: 'Herst, Kleine, dein Vater hat mich auf die Welt gebracht.'

Es gab eine Gaststätte, da hat der Gastwirt meine Mutter immer besonders freundlich gegrüßt, weil mein Vater das Leben seiner Frau gerettet hatte. Später, nach dem Einmarsch der Deutschen, hat er es nicht mehr der Mühe wert gefunden, meine Mutter zu grüßen.

Meine Eltern gingen ins Theater und in Konzerte. Sylvester gingen sie immer in die Fledermaus [Anm.: Operette von Johann Strauss] und danach sind sie Essen gegangen. Sie waren immer mit Ärzten zusammen, größtenteils waren das jüdische Ärzte.

Manchmal haben sie auch Gäste nach Hause eingeladen. Ich wollte immer dabei sein und habe mich dann unter dem Esszimmertisch versteckt.

Meine Eltern waren nicht sehr religiös, aber zu den hohen Feiertagen Rosch Haschana [Jüdisches Neujahr] und Jom Kippur [jüdische Versöhnungstag; wichtigste Feiertag der Juden], blieb man zu Hause. Da sind wir auch nicht in die Schule gegangen. Die Kinder in der Schule haben dadurch auch gewusst, wer Jude war.

  • Meine Schulzeit

Ich bin in die Volksschule in der Treustraße [20. Bezirk] gegangen. Meine Volksschullehrerin hieß Maria Streit. Sie hatte blond gefärbte Haare und war ganz hübsch. Aber vor allem war sie Antisemitin, sie hat es die Kinder spüren lassen.

Ich war bei meiner Einschulung noch nicht ganz sechs Jahre alt. Ich bin die ganzen acht Jahre in der Schule nachgehinkt, habe immer irgendwie Schwierigkeiten gehabt. Ich war nicht sehr gut im Lernen. Das kam wahrscheinlich daher, dass ich Linkshänderin war.

Man hat mich rechtshändig trainiert, aber das fiel mir sehr schwer. Ich bin aber irgendwie immer durchgekommen. Mich wundert, dass meine Eltern da zugesehen haben, sie müssen doch meine Schulschwäche bemerkt haben.

Mein Vater starb im September 1931. Als er starb, war er erst 55 Jahre alt. Meine Mutter war, als mein Vater starb, 37 Jahre alt.

Als Arzt musste er Stiegen auf-, Stiegen absteigen. Der 20. Bezirk war ein Arbeiterbezirk, da gab es keine Aufzüge. Mein Vater starb an einem Herzinfarkt. Es steht auf dem Totenschein, er sei an Verstopfung der Herzvenen gestorben, damals hieß es Herzschlag.

Am Abend ging es meinem Vater schlecht. Ich hatte ein Fenster geöffnet, damit er frische Luft bekommt. Er soll schon Monate vorher Herzbeschwerden gehabt haben, was er vor meiner Mutter verheimlichte.

Mein Vater rauchte Virginia Zigarren und der Frau in der Tabaktrafik hatte er von seinen Herzbeschwerden erzählt. Aber sie sollte es nicht meiner Mutter sagen. Mein Bruder ist vor ungefähr 20 Jahren, mit 62 Jahren, auch an einem Herzinfarkt gestorben.

Er hat nie gelitten, er hatte nur Sodbrennen und am Abend war er tot. Heute gibt es Bypässe, Herzschrittmacher, ich hab auch Angina pectoris gehabt. Das betrifft also nicht nur die Männer in meiner Familie.

Für meine Mutter war der Tod meines Vaters schrecklich. Mein Bruder war knapp elf Jahre alt und ich war noch keine sieben Jahre alt. Für damalige Zeiten hatte mein Vater sehr gut verdient, im Monat 4000 Schilling, was ein Vermögen war.

Von den 4000 Schilling hatten sie aber nichts gespart. Mein Vater brauchte Geld für die Ordination und er hat einen großen Teil an seine Geschwister gegeben.

Meine Mutter konnte dann seine Geschwister nicht mehr unterstützen, weil ihre Pension nicht so hoch war. Am Anfang hatte sie 1000 Schilling Pension, was sehr viel war, aber es wurde immer weniger. Sie hat die Ordination dann verpachtet.

Nach vier Jahren kam ich in die Hauptschule, da musste ich eine Haltestelle zu Fuß von unserer Wohnung gehen. Da war ich immerhin schon fast zehn Jahre alt. Ich hatte eine Freundin, mit der ich vier Jahre in der Volksschule war.

Mit dieser Freundin war ich auch vier Jahre in der Hauptschule. Das war die Ilse Maurer, die wohnte Gaußplatz Nummer sieben. Wir waren dann auch zusammen im Kindertransport nach England.

Anfang 1938 war meine Mutter zufällig in der Schweiz, wir hatten dort Bekannte. Er war Geschäftsmann, hieß Robert Hartmann, und meine Mutter hat ihn dort getroffen.

Der hat meiner Mutter gesagt, dass die Deutschen an der Grenze massiv aufmarschieren, und er hat gesagt, in die Schweiz werden die Deutschen nicht kommen, aber nach Österreich.

Meine Mutter hat gesagt, er wäre verrückt. Sie hat geglaubt, das stimmt nicht. Mein Vater war Sozialdemokrat, aber der war ja schon tot, vielleicht hätte er die Lage ernster genommen.

  • Der Krieg fängt an

Als die Deutschen im März 1938 einmarschierten, war alles voller Nazifahnen. Schon am Tag vorher hingen diese Fahnen. Es hat in unserer Umgebung eine Frau gegeben, die wir kannten und die nicht einmal richtig Deutsch konnte, die hat immer gerufen:

'Hoch das deutsche Wien!' Man kann aber nicht sagen, alle Österreicher waren Nazi. Ich sag das nur im Zorn, denn es waren halt sehr viele. Es war zu dieser Zeit auch eine große Arbeitslosigkeit und dadurch eine große Armut

Mein Bruder war auch in die Volksschule in der Treustraße gegangen und nach vier Jahren in die Unterbergergasse ins Gymnasium. Er hat 1938 Matura gemacht. Er hatte immer sehr gut gelernt.

Seine Lateinlehrerin gab ihm bei der Matura einen Dreier, und meine Mutter hat zu der Lehrerin gesagt: 'Mein Sohn war doch immer so gut'! Darauf hat die Lehrerin geantwortet: 'Ihr Sohn wird wahrscheinlich nie wieder Latein brauchen!'

In der Hauptschule gab es einen Lehrer Popp, der ist 1938 dann gleich Oberlehrer geworden. Er hatte zwei Töchter, die 1938 auf die ganzen Aufmärsche gegangen sind und sehr 'arisch' waren.

Die haben uns einfach nicht mehr gegrüßt. Sie haben so getan, als würden sie uns nicht sehen. Eine Woche lang waren die Schulen nach dem Einmarsch Hitlers gesperrt: man hat den Führer gefeiert. Alle waren auf Aufmärschen, wir waren natürlich zu Hause. Meine Mutter hat gesagt, es sei besser, wir gehen nicht soviel auf die Straße.

Nach einer Woche schulfrei sind wir in der Schule gesessen und haben geschaut, welche Lehrkräfte kommen. Der Klassenvorstand, die Frau Emma Schwiepel, ist nicht gekommen, weil sie Halbjüdin war.

Die Direktorin wurde ausgewechselt, die war eine mit dem Kruckenkreuz 3. Ein neuer Direktor ist gekommen, ich hab ihn für einen Roma oder Sinti gehalten, weil er schwarzhaarig und ein dunkler Typ war.

Wir hatte eine Mitschülerin, eine gewisse Edith Gabel, sie war sehr gescheit. Die waren neun Geschwister zu Hause und die hatten kein Geld. Eine Schwester studierte, sie wurde von irgendwem finanziell unterstützt.

Die Edith hatte ein Gedicht geschrieben. Leider hat sie es nicht zerrissen, sondern nur zerknüllt in den Papierkorb geworfen. Ein Mädel hat den Zettel aus dem Papierkorb herausgezogen.

Da ist gestanden: 'Die braune Pest ist ins Land gekommen.' Daraufhin kam der neue Direktor und schrie: 'Ihr seid nicht würdig hier in die Schule zu gehen, ihr jüdisches Gesindel!' Wir haben natürlich alle gezittert.

Ich hab das meiner Mutter erzählt, und habe mich so gewundert, weil der Direktor gar nicht blond und blauäugig war. Er ist dann aus der Klasse gegangen und hat die Tür zugeschmissen. Da war ein Mädchen, der Vater war Polizist.

Nach dem Einmarsch wurde er sofort Oberwachtmeister in einem Gefängnis. Sie hat gesagt, sie will neben den Juden nicht mehr sitzen. Sie machte den Vorschlag, die Juden sollten auf der einen Seite sitzen und die katholischen, arischen Mädchen auf der anderen Seite. Die Lehrerin hat uns jüdische Kinder in die Fensterreihe gesetzt, wo es schön hell war.

Wir hatten eine Mathematiklehrerin, eine Karoline von Krassnig. Sie war Witwe, ich glaube ihr Mann ist im 1. Weltkrieg gefallen. Sie war die Cousine von unserem ehemaligen Klassenvorstand, der Frau Schwiepel.

Einmal kam sie in die Klasse und alle haben geschrieen: 'Heil Hitler!' Da hat sie gesagt: 'Setzen!' Momentan haben wir uns ein bisschen verdutzt angeschaut, sie hatte nicht 'Heil Hitler' gesagt, sondern 'setzen'. Sie nahm das Klassenbuch, schaute hinein und sagte:

'Seid´s ihr verrückt, warum habt ihr euch umgesetzt?' Sie hatte sich die Namen der Kinder nur nach der Sitzordnung gemerkt.

Da hat das Mädchen gesagt, sie will neben den Juden nicht mehr sitzen. Nach einigen Tagen wurde dieses Mädchen von der Mathematiklehrerin zur Mathematikprüfung an die Tafel gerufen.

Die hat nichts gekonnt und zu unserer großen Überraschung, hat die Lehrerin gesagt: 'Ach so, auf Aufmärsche kann man gehen, aber lernen muss man heutzutage nicht mehr.'

Wir haben uns alle so ein bisschen verstohlen angeguckt. Die Lehrerin war sehr nett zu uns jüdischen Schülerinnen. Es ist mir aufgefallen, dass sie, wenn sie konnte, uns Vorteile hat zukommen lassen. Sie hat nicht sehr streng geprüft.

Es gab eben auch eine Menge anständige Menschen, gerade in der Schule. Eine andere Lehrerin kam zu uns, als wir die Klasse für den jüdischen Religionsunterricht wechselten und die katholischen Mädchen in der Klasse sitzen blieben.

Sie kam extra in unsere Klasse und hat gesagt: das, was jetzt passiert, wird nicht lange so bleiben. Sie hieß Seidel, und wir hatten Angst, etwas dazu zu sagen, weil wir nicht wussten, ob sie uns ausspionieren wollte. Aber sie wollte uns nur trösten.

Wir waren nur noch wenig auf der Straße. In den Augarten sind wir nicht mehr gegangen, es ist schon gestanden: 'Nur für Arier!'

Die letzten sechs Wochen vor den Sommerferien 1938 musste ich in die 'Jüdische Schule' in der Großen Sperlgasse gehen. In meiner Hauptschule, in der Oberen Donaustrasse, waren vier jüdische Mäderln mit dem Namen Kitty. Alle vier mussten in die 'Jüdische Schule' in die Große Sperlgasse gehen.

Mein Bruder ist Ende Juni 1938 im Alter von 18 Jahren illegal in die Schweiz geflohen. Er war nicht allein. Ein SS-Mann hat ihnen geholfen und gesagt: 'Jetzt rennt', als es ungefährlich war. Die Flucht ist ihnen gelungen. Später war es dann sehr schwer, in die Schweiz hinein zu kommen. Da hat dann der Grüninger 4 geholfen.

Bis 1939 haben die Nazis den Juden, die auswandern wollten, keinen Stein in den Weg gelegt. Das Geld haben sie ihnen abgenommen. Wir haben zwar gestunken, aber das Geld und der Schmuck, haben nicht gestunken. Zehn Mark durfte man mitnehmen. Es ging noch nicht um Vernichtung, sondern um Bereicherung. Man wollte die Juden loswerden.

Die 'Zentralstelle für jüdische Auswanderung', die der Eichmann 5 geleitet hat, war zuständig für die Auswanderung der Juden. 1938 bin ich zur Maccabi gegangen. Meine Freundin Ilse und ich waren dann einmal in der Woche zusammen bei der Maccabi 6 turnen.

Meine Mutter hatte gesagt: In der jetzigen Situation gehört es sich, dass man in eine jüdische Organisation geht. Da hab ich irgendetwas gehört von Tchelet-Lawan 7 und meine Freundin Ilse und ich sind zusammen hingegangen. Ilse lebt schon lange in Amerika. Sie ist mit mir nach England emigriert und dann ist sie nach Amerika gegangen.

Ilses Vater, der Herr Maurer, war polnischer Jude und die Mutter war eine Wienerin. 1935 hat die Ilse noch einen Bruder bekommen, einen Nachzügler. Der Heinzi war vier Jahre alt, als wir nach England emigrierten.

Herr Maurer hat immer gesagt: 'Wenn Hitler kommt, bringen die uns um.' Da hat meine Mutter gesagt: 'Der Herr Maurer ist ein Meschuggener, er soll a Ruh geben.' Er hat das aber leider gewusst! Er hat aus Polen gewusst, was Pogrome bedeuten.

Als mein Bruder in der Schweiz war, sagte meine Mutter zu mir: 'Du musst unbedingt auch weggehen, egal wie.' Meine Mutter hat geglaubt, dass man ihr nichts tun werde, weil mein Vater nie jemanden etwas getan hatte, sehr beliebt war und außerdem Offizier im 1.Weltkrieg.

Das war natürlich alles ein tödlicher Irrtum. Sie hing auch so an unseren Sachen. Damals hatte man sich etwas angeschafft für ewige Zeiten - das war so. Meine Mutter hat gesagt, mein Vater hätte sich so geplagt sein Leben lang, dass wir Möbeln haben; halbwegs schön leben können.

Als mein Bruder Bar Mitzwah hatte, das war nach dem Tod meines Vaters, hat meine Mutter sich bei einer jüdischen Geschirrhandlung für 100 Leute Geschirr ausgeborgt, damit Gott behüte nichts von unserem Karlsbader Geschirr kaputt geht.

Wenn ich das damals gewusst hätte, ich glaube, ich hätte jedes Stück dieses Karlsbader Geschirrs in Scherben gehauen, auch wenn sie mich dann umgebracht hätte. Viele Leute blieben wegen ihrer Sachen.

Sie hat vieles in Kisten verpackt und in den Keller geschafft. Sie dachte, es wird jemand drauf aufpassen und sie würde die Sachen zurück kriegen. Die haben sich dann die Parteien anscheinend genommen.

  • Der Kindertransport nach England

Zuerst wollten Ilse und ich nach Palästina. Wir waren auf dem Palästinaamt [Das Palästinaamt betrieb die Einreise nach Palästina] in der Marc Aurel Strasse [1. Bezirk], Ecke Vorlaufstrasse und haben alles dort eingereicht.

Es hat leider Geld gekostet und meine Mutter hatte nicht mehr viel. Die Pension war immer weniger und weniger geworden. Ich hatte auch kein Geld. Meine Mutter hat gejammert, weil das soviel Geld kostete.

Die auf dem Palästinaamt haben gesagt: außerhalb von Tel Aviv wäre eine landwirtschaftliche Schule, da könne man sich anmelden. Meine Freundin und ich sind dann am Kai durch den Beserlpark [Anm: kleiner Park] gegangen.

Da kam uns die Frau Maurer mit dem Heinzi entgegen und sagte: 'Geht sofort zurück zur Kultusgemeinde, es gibt dort einen Kindertransport nach England.' Das war nach dem 10. November 8 1938. Da hab ich gesagt: 'Ich hab aber keine Papiere dabei.'

Frau Maurer war aber vorher schon bei meiner Mutter und hatte meine Papiere. Meine Mutter ist nicht gekommen, denn sie hat sehr schlecht gesehen, sie hatte den 'Grünen Star'. Das konnte man damals nicht operieren. Frau Maurer ist mit uns zur Kultusgemeinde gegangen und hat uns für den Transport nach England angemeldet. Wir mussten uns einer ärztlichen Untersuchung unterziehen. Da wurde versucht, auszusortieren.

Wir waren damals 1000 Kinder, das war schon der zweite Kindertransport nach England. Meine Mutter sagte: 'Fahr nicht nach England, fahr nach Holland. Da kannst du zu Fuß zurückkommen. Nimmst ein Leiterwagerl und ein Bauer wird dich ein Stück führen oder du gehst zu Fuß nach Hause. Übers Wasser wirst du nicht kommen können.'

Meine Mutter, Frau Maurer, Herr Maurer und der kleine Heinz haben uns in Hütteldorf [Teil des 14. Bezirks] halb zwölf Uhr in der Nacht verabschiedet. Es waren kleine Kinder dabei, aber auch Krankenschwestern vom Rothschild-Spital. Das jüngste Kind war sechs Wochen alt. Es ging um Leben und Tod! Manchen Eltern ist es noch gelungen nachzukommen, aber vielen nicht.

Man durfte den Kindern nichts mitgeben, damit der Transport, Gott behüte, nicht gefährdet war. Das war strengstens verboten. Aber Ilse hatte Schmuck und auch etwas Geld. Sie hatte es versteckt, ich habe es erst in England erfahren. Damals bekam man für eine Mark zwei Penny. Die Mark war nichts wert. Zehn Mark durfte man offiziell mitnehmen, also hatten wir sehr wenig Geld.

Meine Mutter hätte nachkommen sollen, aber es war dann leider 14 Tage zu spät. Die Engländer haben in der letzten Woche vor dem Krieg keinen mehr hineingelassen.

Sie hätte in Liverpool für eine deutsche Köchin bei einer englischen Familie arbeiten können. Die englische Familie hatte sogar zum Home Office [Innenministerium] Kontakt, aber es war schon 1939, kurz vor Beginn des 2. Weltkrieges. Es war zu spät!

Wir haben zuerst an der Küste in Dovercourt in einem Sommercamp in Holzhütten, mit Stockbetten auf jeder Seite, gewohnt. Da hatte man uns im Winter untergebracht. Es war ein kalter Winter. Das erste Mal gab es nach 20 Jahren wieder Schnee.

Ausgerechnet in diesem Winter. Sogar die Türen waren eingefroren, wir haben sie kaum aufgebracht. Es gab ein großes Restaurant, das war leer im Winter, da wurden auch Leute untergebracht. Man wusste nicht, wohin mit ihnen.

In dem Camp hat man dann gesagt, Mädchen und Burschen zusammen wäre nicht gut. Deshalb hat man uns nach Lowstof geschickt, aber da waren auch Burschen.

Jeden Tag kamen Leute, die Kinder nehmen wollten. Sie wollten kleine, bis zwei Jahre alte, blonde Buben, zum adoptieren. Die meisten kleinen Kinder hatten ältere Geschwister, die wollten sie aber nicht nehmen. Manche haben aber dann doch ein größeres Kind dazu genommen.

  • Meine Zeit in England

Eines Tages ist Mrs. Jacobs aus Manchester gekommen, die suchte zehn Mädchen ab 14 Jahre. Da habe ich zu Ilse gesagt: 'Komm, gehen wir zu der Hundeauswahl, vielleicht nehmen sie uns.' Ich fand das schon damals empörend.

Die wollten alle kleinere Kinder oder schon arbeitsfähige Jugendliche. Aber mit 14 Jahren war man noch nicht arbeitsfähig. Die haben uns als Hausgehilfinnen gewollt und mit 14 Jahren war man zu jung für diesen Job.

Mrs. Jacobs nahm uns mit nach Manchester. Man brachte uns in ein Lokal. Dann kamen die Leute und haben uns angeschaut. Wir hatten Nummern, auf denen auch unser Name, Alter und noch andere Informationen über uns standen.

Eine Mrs. Burns aus Sothport, eine Arztfrau, gab zu verstehen, dass sie mich nimmt, weil mein Vater Arzt war. Ich hab mich sehr geehrt gefühlt! Meine Freundin Ilse ist zu einer Mrs. Kaplan gekommen, die selber vier Kinder hatte.

Die war sehr nett. Leider hatte meine Mrs. Burns keine Kinder. Sie konnte keine haben und wurde so eifersüchtig auf mich, dass ich zu einer anderen Familie musste. Ich war dann bei Mrs. Royce, einer großen, energischen Frau, die zwar auch keine Kinder hatte, aber sehr nett war. Ihr Mann war Möbelhändler. Sechs Wochen wohnten wir privat.

Dann hat das jüdische Komitee ein Haus in Sothport für uns eingerichtet. In dem Haus waren wir neun Mädchen, ein Mädchen war adoptiert worden. Es kamen auch noch andere Mädchen aus Deutschland dazu.

Wir haben die alte Mrs. Marks von 'Marks & Spencer' [Anm.: große britische Handelskette] kennen gelernt. Sie war 1939 schon 90 Jahre alt. Sie war sehr nett, sie hat ausgesehen wie eine alte Queen Mary, hat englisch und auch ein bisschen jiddisch gesprochen.

Ich habe gesagt, dass ich jiddisch nicht kann und mein Englisch auch nicht gut ist. Da hat sie mich erstaunt gefragt: 'Na, habt ihr zu Hause nicht jiddisch gesprochen?' Sie hat dann auf uns aufgepasst. Wir waren zu ihr eingeladen und bekamen zu essen.

Bei der Gründung des Komitees war die Mrs. Marks auch dabei. 'Marks & Spencer' hat viel Geld für uns ausgegeben: Bettwäsche und Bettdecken, Pölster und Kleidung wurde uns gebracht.

Die Frau Marks hat immer geschaut, dass wir neue Sachen bekommen. Wenn etwas nicht gepasst hat, wurde es umgetauscht. Manche Kinder waren sehr arm, die hatten fast gar nichts.

Wir hatten Ärzte, die haben uns umsonst betreut. Da war ein gewisser Doktor Adler, der schon 1933 aus Deutschland emigriert war. Er hatte in Berlin wichtige Leute behandelt. Die waren dann 1933, nach Machtübernahme Hitlers in Deutschland, nicht mehr zu ihm gekommen.

Im Heim bekamen wir einen Shilling Taschengeld, davon mussten wir alle Kosmetika zahlen: Zahnpasta, Zahnbürste und Seife, alles von dem einen Shilling. Wir waren zu viert im Zimmer und haben uns oft ein Stück Seife zusammen gekauft.

Wir bekamen auch Jobs, aber die waren sehr schlecht bezahlt, weil wir ja offiziell, als Flüchtlinge, nicht arbeiten durften. Sie haben uns nur ein Achtel von einem Pfund gegeben. Das war sehr wenig.

Nachdem das Heim koscher geführt werden musste, wurde das Besteck für Fleischiges rot angemalt und das Besteck für Milchiges blau angemalt. Die meisten von uns waren nicht religiös, aber die Religiösen haben immer sehr genau geschaut und das Besteck neu angemalt, wenn die Farben durchs Abwaschen verblassten.

Wir mussten auch jeden Samstag in den Tempel gehen. Da habe einmal mit dem Schammes [Synagogendiener] gesprochen. Ich habe ihm erzählt, dass meine Mutter so gern nach England kommen möchte.

Er hat versprochen, etwas zu versuchen. Es ist natürlich nicht gegangen, weil die Engländer auch niemanden mehr herein ließen. Es hätte 50 Pfund gekostet, damals war das viel Geld. Wenn man das auf die heutige Zeit umrechnet, sind das ungefähr 100.000 Schilling.

In dem Heim in Sothport waren wir bis März 1940. Dann übersiedelten wir nach Manchester.

Meinen Bruder sah ich 1940 wieder. Als er in die Schweiz geflohen war, hatte er mir nicht gefehlt. Das erste, was ich gesagt habe, als ich ihn wieder sah, war:

'Wenn du mich noch einmal haust, brauchst du mich nie mehr besuchen.' Daraufhin schaute er mich sehr komisch an, er war immerhin schon 18 Jahre alt. Er hat bei einem Bauern gearbeitet, und nach dem Krieg in Wien an der Universität für Bodenkultur studiert und wurde Agraringenieur.

Meiner Mutter habe ich zwei bis drei Briefe jeden Monat geschrieben, solange es ging. Zuerst gingen die Briefe über die Schweiz, dann, bis Amerika in den Krieg eintrat, über Amerika und ab 1942 über das Rote Kreuz. Da durfte man in jedem Brief nur noch 20 Worte schreiben. Eines Tages ist ein Brief zurückgekommen: nicht zustellbar.

Meine Mutter hatte meinen Bruder und mich brieflich gebeten, wir sollten schauen, dass sie rauskäme, weil sie sonst dahin kommt, wo der Josef und der Walter Fischkus, das waren Verwandte von uns, hingekommen sind. Die waren nach Nisko 9 in Polen deportiert worden.

Sie hat auch nicht mehr geschrieben:'Liebes Kind oder liebes Putzi. Meine Mutter hatte mich Putzi und meinen Bruder Punti genannt. Wenn meine Mutter Kitty rief, bin ich langsam gekommen. Da wusste ich, ich habe irgendwas angestellt. Sie hat die Briefe so geschrieben, als wären sie an eine Freundin gerichtet.

Als mein Bruder und ich noch in Wien waren, hatten wir eine Wohnung im Haus aufgegeben. Wir wohnten zusammen mit unserer Mutter dann in der größeren Wohnung. Aus der musste meine Mutter ausziehen. Sie war zum Schluss im 1. Bezirk, im Lazenhof.

Da waren vier Frauen in einem Zimmer. Das war ihre letzte Adresse: Lazenhof 2/ Tür 13. Diese Häuser waren im Besitz der Kultusgemeinde. Man hatte die Juden dort untergebracht und sie dann von dort deportiert.

Meine Mutter ist am 22. Mai 1942 nach Minsk deportiert worden [Malwine Pistol wurde am 20.5.1942 nach Maly Trostinec bei Minsk deportiert und am 26.5.1942 ermordet. Quelle: DÖW-Datenbank].

In Manchester wohnten wir in einer Bed and Breakfast Pension, die an das jüdische Komitee vermietet war. Herr Ackermann, auch ein Jude, war der Besitzer. Es war ein doppelstöckiges Haus.

Unten befand sie ein Luftschutzkeller mit Stockbetten. Meine Freundin Ilse und ich haben uns zum Luftschutzdienst gemeldet. Wir hatten Helme und dunkelblaue Uniformen mit Goldknöpfen. Wenn die Sirenen losgingen, sind wir zum Stützpunkt gelaufen.

Weihnachten 1940 haben die Deutschen begonnen, Manchester zu bombardieren - den Hafen, die Kirchen, auch den Pferderennplatz in unserer Nähe, auf dem auch Hunderennen stattfanden. In unserer Straße wurden auch Bomben abgeworfen.

Da war so ein freier Platz, wo die Kinder immer Fußball gespielt hatten. Am nächsten Tag war da plötzlich ein großes Loch. Es gab Raketen, die die ganze Straße entlang gerutscht sind und alle Häuser kaputtgemacht haben.

Die Menschen sind unter die Treppen in ihren Häusern gelaufen, weil es nicht so viele Luftschutzkeller gab. Dort haben viele überlebt. Dann sind die deutschen Flugzeuge aber nicht mehr nach Manchester gekommen, es war ihnen zu weit.

Zuerst habe ich in einer Fabrik gearbeitet, in der Uniformen hergestellt wurden. Da habe ich 2,10 Pfund in der Woche verdient.

Im Juni 1940 war der Zusammenbruch Frankreichs. Da begannen die Engländer, die Leute zu internieren. Sie haben gesagt, Österreicher sind auch Deutsche, weil es ja nach dem Einmarsch Hitlers kein Österreich mehr gab. Aber die meisten haben das gar nicht gewusst.

Es gab auch Nichtjuden, die aus politischen Gründen geflohen waren. Die wurden auch interniert. Ich war erst 15 Jahre als, ab 16 hat man auch Frauen interniert. Mein Bruder war neun Monate interniert.

Zuerst in Manchester, in einer alten Fabrik und dann wurde er auf die 'Isle of Man' gebracht. Es wurden Flüchtlinge auch nach Australien und Kanada geschickt und dort interniert. Man wollte sie loswerden, man hat sie einfach nicht gebraucht.

Mein Cousin war auf so einem Schiff und ist in Australien geblieben. Die Mannschaft hat sie noch ausgeraubt, die Eheringe wurden ihnen sogar von den Fingern gezogen. Nach dem Krieg kam es zum Prozess, aber sie haben behauptet, sie wären betrunken gewesen. Sie haben gesagt, es täte ihnen leid, aber wo die Sachen geblieben waren, haben sie natürlich auch nicht gewusst.

In Kanada haben die Engländer den internierten Deutschen von der Handelsflotte, die man noch in den Hoheitsgewässern erwischt hatte, gesagt: 'Freut's euch, noch ein paar Deutsche kommen.'

Die haben dann auf Transparente geschrieben: 'Willkommen, deutsche Brüder!' Es sind dann aber sehr viele Juden mit Bärten, Hüten und mit langen Kaftanen ausgestiegen.

Die Deutschen sind davongerannt, weil sie Angst vor ihnen hatten. Die Juden haben sich aber schnell assimiliert und mit den Deutschen zusammen gearbeitet. Zum Schluss haben alle darüber gelacht.

Mein Bruder wurde nach neun Monaten aus der Internierung entlassen. Er hat dann noch am Land gearbeitet und konnte sich dann zum englischen Militär melden.

Am Anfang waren die Leute nur mit Schauferl und Beserl in dem Pionierkorp, da hat mein Bruder gesagt:

er wird sich nicht abschießen lassen. Sie durften dann aber eine Waffe tragen. Mein Bruder ist ziemlich bald an die zweite Front gekommen. Er kam auf ein amerikanisches Schiff, da waren vom Kapitän bis zum Laufburschen alle Juden.

Sie fuhren nach Frankreich und mein Bruder ist dann zum Schluss in der Lüneburger Heide gelandet. Er hat viel Schreckliches erlebt, es gab noch viele Kämpfe.

Ich habe 1946 in Wien im Stadtpark einmal mit einem Russen getanzt, der war in Zivilkleidung. Er hat gut deutsch gesprochen. Er hat mich gefragt, warum ich nicht so gut deutsch kann. Ich habe gesagt, dass ich acht Jahre in England war.

Er war aus der Nähe von Minsk, da hab ich ihn nach der Ermordung der Juden dort gefragt. Er sagte: 'Ja, es hat etwas gegeben, eine Verbrennungsanlage. Da ist immer Rauch aufgestiegen:' Er war noch ein Kind, aber seine Eltern hatten ihm gesagt, dass dort ein deutsches Vernichtungslager war.

Ich weiß nicht, wie lange die Leute unterwegs waren. Viele Eisenbahner in Wien waren im Widerstand. Mir wurde erzählt, man hätte Güterwaggons abgedichtet und gleich außerhalb Wiens, in Groß-Enzersdorf, Gas in die Waggons geleitet.

Da habe ich gedacht: wenigstens hat meine Mutter weniger gelitten. Die Leute waren in den Viehwaggons ohne Wasser und Essen, ohne Klo, ohne Alles.

Als der Brief mit dem Vermerk 'nicht zustellbar' zurückkam, war mir noch nicht klar, was geschehen war. Erfahren habe ich es erst 1943. Es wurden Schiffe mit Waffen und Lebensmitteln nach Russland geschickt. Das hieß Lend Lease, Lease heißt gemietet.

Man hatte die Ware sozusagen an Russland vermietet, denn Russland konnte das natürlich nie bezahlen. Ich habe einen Matrosen kennen gelernt, der hat erzählt, sie wären immer den Hafen von Murmansk angelaufen, weil alle anderen Häfen gefroren waren im Winter.

Sie durften aber nicht hinunter, die Russen sind an Bord gekommen. Und da haben ihnen die Russen erzählt, dass die Deutschen viele, viele Juden umbringen - in verschiedenen Lagern in Russland und in Polen.

Da wusste ich noch nicht, dass meine Mutter nach Minsk gekommen ist. Das habe ich erst nach dem Krieg von der Kultusgemeinde erfahren, dort war sie abgemeldet. Ich habe auch dem Polizeimeldeamt in Wien geschrieben.

Die haben mich gefragt, warum ich das wissen will. Da habe ich gesagt: wegen der Erbschaft. Und bei denen stand auch: abgemeldet nach Minsk, im Mai 1942 - laut Kultusgemeinde. Die Kultusgemeinde hat scheinbar die Leute abgemeldet.

Ich hatte begonnen, in Manchester in einem Büro für Export zu arbeiten, die Textilien nach Afrika exportierten und dann hatte ich einen Posten im Büro einer Stahlfabrik.

Meine Freundin Ilse war zu einer englischen Familie gezogen und hat bei Henry Brothers, einem kleinen Warenhaus, als Liftmädchen gearbeitet. Nach dem Krieg haben sich ihre Eltern gemeldet.

Die Familie Maurer hatte den Krieg überlebt. Die Mutter der Frau Maurer war im Altersheim in der Seegasse an Altersschwäche, so wurde später erzählt, gestorben. Sie war schon weit über 80. Die Eltern und der Bruder von der Ilse sind 1949 und die Ilse ist Anfang 1950 nach Amerika ausgewandert. Ilse und ihr Bruder leben in Amerika.

Im Juni 1946 ging ich nach London und habe für dieselbe Firma, aber im Hauptquartier, gearbeitet.

  • Zurück nach Wien

Im Oktober 1946 bin ich nach Österreich zurückgekommen. Mein Bruder ist im Dezember nach Österreich gekommen. Ich bin gleich nach Wien gefahren.

Der älteste Bruder meines Vaters ist zur Kultusgemeinde gegangen und hat gesagt:

'Meine Nichte kommt nach Wien, ich möchte gerne ein Zimmer für sie mieten.'

Da haben sie gesagt:

"Wann kommt die Nichte?" Er sagte: 'Am 2. Oktober.' Da sagten sie: 'Ihre Nichte dürfte aber keine Jüdin sein.' Sagt er: 'Was soll das heißen?'

'Am 2. Oktober ist Jom Kippur.' Ich hatte, es war immerhin sechs Wochen vorher, keine Ahnung, dass Jom Kippur ist. Mein Onkel hat dann wütend die Kultusgemeinde verlassen.

Ich hab dann bei einer Freundin meiner Mutter gewohnt und einige Zeit in Wien für die Engländer im Büro gearbeitet. Später hab ich dann durch die Kultusgemeinde ein Zimmer im 1. Bezirk, in der Maria-Theresien-Strasse, gleich hinter der Kultusgemeinde, bekommen.

Da habe ich ein paar Monate gewohnt. Dort habe ich dann auch mit meinem zukünftigen Mann gelebt. Die Eltern meines Mannes Dr. Otto Suschny, der am 28. August 1924 in Wien auf die Welt gekommen ist, sind im Juli 1942 nach Minsk deportiert und ermordet worden.

Sein Vater Siegfried war Handelsvertreter, seine Mutter Adele war Näherin. Er war ein Einzelkind und hatte seine Kindheit in Wien verbracht. Er ist im November 1939 auf legalem Wege nach Palästina geflüchtet, hat dort im Kibbutz gelernt und gearbeitet, und war dreieinhalb Jahre beim Militär, bei der Royal Armee Service Corps.

Nach seiner Rückkehr nach Wien hat mein Mann Chemie studiert. Ich habe ihn während einer Pessachfeier [Pessach: Fest, das an den Auszug der Juden aus Ägypten erinnert] 1947 kennen gelernt. Seit 1957, bis zu seiner Pensionierung, arbeitete er für die International Atomic Energy Agency.

Meine eigene Familiengeschichte

Kurz bevor wir geheiratet haben, sind wir in ein Heim in der Tempelgasse [2. Bezirk] übersiedelt. Das war ein Heim der Kultusgemeinde für Obdachlose. In der Tempelgasse war eine Gemeinschaftsküche, da lebten lauter arme Teufel, die im Lager waren oder auf Zwangsarbeit.

Wir hatten zwar ein Riesenzimmer für uns, aber geborgte Möbel, die man den Nazis weggenommen hatte. Ich bin dann wegen einer Wohnung zur Rosa Jochmann 10 gegangen. Sie war eine einmalige Frau.

Ich hab ihr gesagt, dass ich in England in der Emigration war, da sagte sie ungefähr folgendes: Trauen sie den Leuten nicht! Ich war im KZ, ich weiß, wovon ich rede: inklusive meiner Partei sind alle Verbrecher und Gauner.

Sie sagte, von der Kultusgemeinde bekäme sie fast nichts zugeteilt. Als mein Mann und ich heirateten, wären wir ganz gern zu einer Wohnung gekommen. Wir hatten natürlich kein Geld, mein Mann hatte damals ein Stipendium und ich hab nicht sehr viel verdient.

Ich war dann beim jüdischen Nationalfond. Die haben gesagt, es ist sehr schwer, sie werden schauen, was sie machen können. Wir haben dann wirklich eine kleine Wohnung im 18. Bezirk von der Gemeinde bekommen. Endlich eigene vier Wände!

Dann haben wir nach etwas über drei Jahren, im Jahre 1957, unsere erste Tochter, die Eva-Ruth bekommen, die jetzt im Sommer 45 Jahre alt war. Wir haben natürlich versucht, eine größere Wohnung zu bekommen.

Nach drei Jahren, 1960, bin ich wieder schwanger geworden und wir haben eine zweite Tochter bekommen, die Dinah. Die Wohnung war dann viel zu klein. Dann haben wir selber eine größere Wohnung gesucht und vom 'Sozialbau' [Gemeinnützige Wohnungsaktiengesellschaft] eine Wohnung im 6. Bezirk bekommen.

Plötzlich hatten wir eine Vierzimmerwohnung. Die war drei Mal so groß, wie die vorherige Wohnung und dazu war sehr zentral gelegen. Es wohnten auch zwei oder drei andere jüdische Parteien in dem Haus.

Dort haben wir gewohnt von 1961 bis 1972. 1962 wurde unser Sohn Peter geboren. 1972 sind wir in unser Haus gezogen, in dem wir noch jetzt wohnen.

Eva-Ruth, verheiratete Dombrowski, lebt bewusst jüdisch mit ihrer Familie. Sie war als Jugendliche auch in Israel, hat Medizin in Wien studiert und arbeitet als Ärztin. Sie hat drei Kinder: Daliah, Sonja und Raphael. Die Kinder gehen in den jüdischen Religionsunterricht.

Dinah, verheiratete Nemesszeghy, arbeitet als medizinisch-technische Fachkraft. Sie hat einen Sohn Joachim.

Peter ist ein bewusster Jude, lebt aber überhaupt nicht danach. Er ist verheiratet und hat einen Sohn, Martin, und eine Tochter Yvonne. Er ist beruflich selbständig.

Nach und nach haben unsere Kinder geheiratet und sind ausgezogen. Zuerst die jüngere Tochter, wenig später die ältere Tochter und dann unser Sohn Peter.

1984 war wieder ein Treffen der Emigranten in Sothport. Da habe ich mich mit Mrs. Livingston, die im jüdischen Komitee gearbeitet hatte, über meine Mutter unterhalten.

Und ich habe zu ihr gesagt, dass meine Mutter wegen lausiger 50 Pfund umgekommen ist, die ich später zehnmal hätte zurückzahlen können. Mrs. Livingston fühlte sich daraufhin persönlich angegriffen, aber so hatte ich das nicht gemeint.

Wir haben viele Bekannte. Die nichtjüdischen Bekannten sind fast alle 20 Jahre jünger als wir, manche kommen auch aus Nazifamilien.

Wir sind seit über 50 Jahren wieder in Wien. An Wiedergutmachung, an Rückstellungen wurde überhaupt nicht gedacht. Es wurde sogar verhindert, dass Leute zurückkommen, die gehofft hatten, dass man sie zurückruft.

Es gibt viele Beispiele dafür:

Da waren das Ehepaar Charlotte und Karl Bühler, die emigrieren mussten, beide Psychologen. Er hat die ganze Zeit darauf gewartet, dass Österreich ihn zurückruft. Österreich hat es nicht getan.

Dann bekam er eine Ehrenauszeichnung und ein Pavillon wurde nach ihnen benannt. Das ist in meinen Augen Augenauswischerei. Die Familie Kuffner waren die Eigentümer der Ottakringer Brauerei.

Der Verkauf der Brauerei an Herrn Harmer wurde 1946 von der Familie Kuffner legalisiert, aber der Mensch Kuffner hat niemanden interessiert. Dafür gibt es eine Kuffner-Sternwarte und eine Kuffnergasse.

Wenn ich an die Klimt Bilder denke, die der Frau Altmann 11 gehören, das ist doch alles unglaublich! Ich war bei einer Veranstaltung, da wurde über dieses Thema gesprochen.

Da war eine blonde, blauäugige, sehr fesche Frau, die sagte, man habe ihren Großeltern die Banklizenz weggenommen und es bis jetzt nicht der Mühe wert befunden, sie zurückzugeben.

Auf dem Podium saß auch die Maria Altmann. Es gibt viele Beispiele. Der Staat ist durch die Vertreibung und Ermordung der Juden reich geworden und hat sich saniert.

  • Glossar:

1 Austrofaschismus: Bezeichnung für das ab 1933 in Österreich etablierte Herrschaftssystem - der 'Ständestaat' - entwickelt und getragen von Engelbert Dollfuß und dessen Nachfolger Kurt Schuschnigg, der Christlichsozialen Partei, der Heimwehr [Miliz der Christlichsozialen] und dem Landbund.

2 Steinhof: Psychiatrisches Krankenhaus und Pulmologisches Zentrum der Stadt Wien im 14. Gemeindebezirk. In der damals 'Spiegelgrund' genannten Anstalt wurden während der Nazi-Zeit zahlreiche Euthanasiemorde begangen.

3 Kruckenkreuz: Kreuz mit Querbalken an den vier Enden - Symbol der Vaterländischen Front.

4 Grüninger, Paul [1891-1972]: Polizeihauptmann in St. Gallen [Schweiz], der in der Zeit unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg hunderten, vielleicht auch tausenden Juden das Leben rettete, indem er ihnen illegal die Einreise in die Schweiz ermöglichte. 1939 wurde er deshalb vom Dienst suspendiert und 1940 auch verurteilt und erst 1995 rehabilitiert.

5 Eichmann, Otto Adolf [1906-1962]: SS-Obersturmbannführer, organisierte die Vertreibung und Deportation der Juden aus Deutschland und den von Deutschland besetzten Gebieten.

Nach dem Anschluss im Jahre 1938 baute er in Wien die Zentralstelle für jüdische Auswanderung auf, welche die zwangsweise Ausreise der jüdischen Bevölkerung aus Österreich betrieb.

Ab 1941 war Eichmann für die Organisation der Deportation der Juden aus Deutschland und den besetzen europäischen Ländern zuständig und mitverantwortlich für die Ermordung von sechs Millionen Juden.

1960 wurde Eichmann von Mossad-Agenten in Argentinien gefasst und nach Israel gebracht, wo er wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und hingerichtet werde.

6 Maccabi: Internationale jüdische Sportorganisation, die in Osteuropa gegründet wurde, weil Juden in andere Sportvereine nicht eintreten durften.

7 Blau-Weiß [hebr.: Tchelet-Lavan]: 1913 als 'Blau-Weiß, Bund für jüdisches Jugendwandern in Deutschland' gegründet. Mit Blau-Weiß nahm die jüdische Jugendbewegung ihren Anfang.

8 Pogromnacht [Novemberpogrom]: Bezeichnung für das [von Goebbels organisierte] 'spontane' deutschlandweite Pogrom der Nacht vom 9. zum 10. November 1938.

Im Laufe der ,Kristallnacht' wurden 91 Juden ermordet, fast alle Synagogen sowie über 7000 jüdische Geschäfte im Deutschen Reich zerstört und geplündert, Juden in ihren Wohnungen überfallen, gedemütigt, verhaftet und ermordet.

9 Nisko: Ort im Karpatenvorland. Im Rahmen der 'Umsiedlung nach dem Osten' gelangten Ende 1939 zwei Transporte mit 1.500 Wiener Juden nach Nisko.

Nur 200 Männer gelangten in das Lager, die Mehrheit wurde über die deutsch-sowjetische Demarkationslinie gejagt. Nach dem Abbruch der Aktion wurden im April 1940 198 Männer nach Wien zurückgeschickt - viele von ihnen wurden mit späteren Transporten neuerlich deportiert.

10 Jochmann, Rosa [1901-1994]: österreichische Widerstandskämpferin und sozialdemokratische Politikerin. 1940-1945 im KZ Ravensbrück interniert.1945-1967 Abgeordnete zum Nationalrat.

Bis ins hohe Alter reiste war Jochmann als 'Zeitzeugin' aktiv und erzählte Schülern über die Nazi- Zeit.

11 Altmann, Maria [geb. 1916]: Nichte und die Erbin der Bankierstochter Adele Bloch-Bauer, Ehefrau des Zuckerindustriellen Ferdinand Bloch, die von Gustav Klimt zweimal portraitiert wurde.

Die Bilder hingen zeitweilig mit drei Bildern aus dem Besitz der Familie in der Österreichischen Galerie im Wiener Schloss Belvedere. Sie wurden erst 2006 nach langer juristischer Auseinandersetzung an die Erbin restituiert.