Maximilian Gluskin

Maximilian Gluskin
Wien
Österreich
Datum des Interviews: Februar 2003
Name des Interviewers: Tanja Eckstein

Am 7. Februar 2003 las ich im Kurier einen kurzen Artikel über Herrn Gluskin, der folgendermaßen beginnt: Im Döblinger Seniorenheim ‚Maimonideszentrum’ ist der Schneider Maximilian Gluskin aus mehreren Gründen beliebt:

Weil der mittlerweile 100 Jahre alt gewordene ein Leben voller lebensgefährlicher Widrigkeiten gemeistert hat, weil er ein charmanter ‚Sir’ und obendrein ein fantastischer Geschichtenerzähler ist...

’Dem ist nichts hinzu zu fügen, nur, dass ich Herrn Gluskin daraufhin telefonisch kontaktierte, er sofort meine Bitte um ein Interview bejahte, um sich dann aber Verstärkung in seine Wohnung im 4. Bezirk in der Waaggasse, in Form des Herrn Aron Neuman, ebenfalls ein Besucher des Maimonides-Zentrum, zu holen, denn er hatte weder verstanden, wer ich bin, noch was ich von ihm will. Wir verbrachten zu dritt einen sehr netten Nachmittag.

Ich kann nur bestätigen, er ist ein gutaussehender, trotz seiner 100 Jahre, charmanter ‚Sir’.  

Maximilian Gluskin starb im Januar 2006.

  • Meine Familiengeschichte

Mein Name ist Maximilian Gluskin. Ich wurde vor einhundert Jahren, am 7. Februar 1903, in Brody, im damaligen Galizien, geboren. Mein Vater hieß Jakob Gluskin. Er wurde in Russland geboren. Dadurch habe ich meine Großeltern und die gesamte Familie nie kennen gelernt. Mein Vater arbeitete in Brody [heute Ukraine] in der Kultusgemeinde. Er sprach jiddisch und war natürlich ein sehr religiöser Mann. 1914 habe ich ihn das letzte Mal gesehen, er fiel als Soldat im 1. Weltkrieg.

Meine Mutter hieß Sabina, jüdisch Scheindl, Gluskin. Ihr Mädchenname war Pottisch. Ich glaube, sie wurde 1882 in Brody geboren. Sie sprach jiddisch und war sehr religiös. Sie war ein Einzelkind, weil ihre Mutter sehr früh gestorben war. Meinen Großvater habe ich nie gesehen.

Er hat nach dem Tod seiner ersten Frau noch einmal geheiratet, und die Stiefmutter hat meine Mutter hinaus geworfen. Dadurch waren wir nur eine sehr kleine Familie. Meine Eltern hatten drei Kinder. Ich war der Älteste, meine Schwester Sabina wurde 1905 in Brody geboren und mein Bruder Elias wurde 1906 in Brody geboren. Unsere Muttersprache war jiddisch, ich spreche noch heute jiddisch. Wir gingen in Brody in eine jüdische Schule.

Brody war die Grenzstation am nordöstlichen Rand des habsburgischen Königreiches Galizien. Es hatte 20 000 Einwohner, davon waren zwei Drittel der Bevölkerung Juden; es war fast eine jüdische Stadt, und es gab viele Synagogen. Es gab Gassen, in denen haben nur Juden.

Es gab auch einen ganz großen Tempel. In Brody hatte jedes Geschäft koschere Produkte. Das war normal, sie haben gar nichts anderes gekannt. Man hat ein Hendel gekauft und ist damit zum Schächter 1 gegangen, der hat das Huhn koscher geschlachtet.

Ich kann mich daran erinnern, dass im Jahre 1913 der Kaiser Franz Josef nach Brody gekommen ist; ich habe ihn damals gesehen. Wir sind vom Tempel zum Bahnhof gegangen, um den Kaiser zu begrüßen. Damals gab es noch kein Taxi, da ist man zu Fuß gegangen.

Vom Zentrum der Stadt bis zum Bahnhof, das war weit. Man hätte mit einem Fiaker fahren können, weil im Zentrum der Stadt zwei Fiaker standen, nicht so wie hier in Wien, wo hundert Fiaker stehen. Aber mit einem Fiaker fahren, das war eine kostbare Sache.

In Brody haben 70 bis 80 Prozent arme Menschen gelebt. Die waren froh, dass sie ein Stück Brot oder Kartoffeln hatten; Brot und Kartoffeln waren am billigsten. Manche hatten kaum Geld - das war so. Im Schtetl war das Leben sehr schwer, überhaupt war das Leben sehr hart in Polen.

Von der Regierung bekamen die armen Menschen keine Unterstützung, so etwas gab es damals nicht. Nur die Leute, die irgendwo bei der Regierung arbeiteten, hatten mehr Geld. Ein Jude durfte aber nie in einer Regierungsstelle aufgenommen werden, nirgendwo, das war nicht erlaubt. Da haben die Juden vegetiert, und es gab in Polen dreieinhalb Millionen Juden.

  • Meine Kindheit

Meine Familie gehörte zum Mittelstand. Meine Mutter war Hausfrau und hat für die Familie gekocht und gebacken.

Als ich dreizehn Jahre alt war, hatte ich Bar Mitzwa 2, das war selbstverständlich, aber wenn man eine schöne Feier machen wollte, brauchte man Geld. So viel Geld hatten wir leider auch nicht.

Im Jahre 1914 sind wir mit unserer Mutter vor dem 1.Weltkrieg geflüchtet. Sehr viele Juden flüchteten, es gab Straßen, die waren dann komplett leer. Alle sprachen über den Krieg und man bekam Angst. Mein Vater musste zum Militär und unsere Mutter war mit uns drei Kindern allein.

Wir wussten nicht, wohin wir fahren sollten, aber dann flüchteten wir nach Prag. Acht Tage dauerte die Reise von Brody nach Prag. In Prag ging ich dann in die Schule. Wir sind hauptsächlich mit dem jüdischem Glauben aufgewachsen, aber in Prag ging ich in  eine gewöhnliche Schule. Für die Flüchtlingskinder gab es speziell einen Lehrer, damit wir uns verständigen konnten.

Die meisten Kinder konnten nicht, was die tschechischen Kinder konnten. In den jüdischen Schulen, im Cheder 3, gab es einen vollkommen anderen Lehrplan. In Prag hatten wir dann jeden Tag in der Schule eine Stunde Religionsunterricht. Der Religionslehrer ist in die Schule gekommen.

Ich kann mich erinnern, dass ich am Jom Kippur 4 mit meiner Mutter in Prag in den Tempel gegangen bin. Dort sind die Gabbuim [Tempeldiener] mit einem Fiaker gekommen - ich habe das selber gesehen. So etwas habe ich später in Wien in manchen Bethäusern gesehen.

Auch in die großen Tempel kommen Leute mit dem Auto, aber das sind nicht die Orthodoxen, denn die halten sich noch an die religiösen Vorschriften. Aber die anderen halten sich nicht mehr so sehr daran. Da könnte man ja auch vieles nicht machen, da darf man das Licht nicht anmachen und nicht im Fahrstuhl den Knopf drücken und vieles andere dürfte man auch nicht.

Ich war noch einmal vor ein paar Jahren mit der Familie meiner älteren Tochter in Prag. Sie wollten Prag besuchen und da sind wir alle zusammen gefahren. Da hat auch meine Frau noch gelebt.

Vier Jahre haben wir in Prag gelebt, von 1914 bis 1918, bis zum Ende des Krieges. 1918 haben uns die Tschechen in Viehwaggons verfrachtet und zurückgeschickt, sie haben alle Flüchtlinge ausgewiesen. Es war Winter, es war sehr kalt und es lag Schnee. Man musste nach Hause fahren, ob man wollte oder nicht. Und so sind wir gefahren eine ganze Woche bis Oświęcim [deutsch Auschwitz, Polen].

Da haben wir aussteigen müssen, weil in Brody die Polen noch mit den Russen Krieg geführt haben. Es dauerte wochenlang, bis wir weiterfahren konnten. Als wir endlich in Brody ankamen, war unsere Wohnung besetzt, und unser Vater war im Krieg gefallen.

Meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder haben dann eine Wohnung von der Kultusgemeinde bekommen. Mein Bruder Elias wurde Dachdecker, heiratete und hatte zwei Kinder.

Wenn man was Gutes lernen wollte, brauchte man viel Geld, denn man musste alles selber kaufen. Die Menschen, die ihre Kinder studieren lassen wollten, mussten sehr reich sein. Manche haben die Kinder nach Prag oder nach Italien zum Studieren geschickt. Durchschnittliche Menschen konnten nicht studieren, man konnte höchstens die Matura machen, nicht mehr.

Ich habe dann in einer Schneiderwerkstatt gelernt. Als ich mit der Lehre fertig war, habe ich von dem Geld nicht leben können. Wenn ich eine Woche gearbeitet habe, hatte ich genau das Geld, um von Brody nach Lemberg zu fahren. Da bin ich 1923 nach Lemberg [heute Ukraine] gezogen. Lemberg war schon wie eine Großstadt.

Von 1923 bis 1926 habe ich in der polnischen Armee als Soldat gedient.

Damals musste man 12 Stunden am Tag arbeiten. Später, bei mir, haben die Leute acht Stunden gearbeitet, keine Sekunde länger. Vor Feiertagen hat man von sechs Uhr in der Früh bis zwölf Uhr in der Nacht gearbeitet. Während dieser Zeit hatte ich keine Zeit in die Synagoge zum Beten zu gehen.

Ich bin um sechs Uhr in der Früh aufgestanden und habe bis in die Nacht hinein gearbeitet - dann konnte ich erst gehen. Ich habe in einer Fabrik gearbeitet, in der Damenmäntel erzeugt wurden. Da haben auch zehn oder zwölf Frauen gearbeitet. Eine dieser Frauen hat mir meine erste Frau vermittelt.

Meine Frau hieß Maria Umschweif mit Mädchennamen. Sie war in Lemberg geboren, ihre Muttersprache war auch jiddisch. Ich habe ihr gefallen, das weiß ich bestimmt, denn ich war ein ganz fescher Bursche, und ich glaube, sie hat mir auch gefallen. Wir hatten eine mittelgroße Hochzeit, auch ihre Eltern waren dabei. Ihre Mutter starb dann mit 60 Jahren an Krebs.

Wir lebten dann zusammen in Lemberg und 1933 wurde unser Sohn Itzchak geboren. Da war ich fast 30 Jahre alt.

Inzwischen besaß ich zwei Schneiderwerkstätten in Lemberg und kannte dort viele Menschen. Es lebten sehr viele Polen und Ukrainer dort. Meine Frau kümmerte sich um den Haushalt und das Kind, damals waren die Frauen zu Hause.

Im Verkauf, die Doktoren und die Apotheker - das waren alles nur Männer. Ich musste viel arbeiten, und meine Mutter sah ich dann selten, denn zwischen Lemberg und Brody war eine Entfernung von ungefähr hundert Kilometern und die Fahrt kostete zwölf Zloty und zwölf Zloty, das war viel Geld.

Zu den Feiertagen, zwei - bis dreimal im Jahr bin ich natürlich zu ihr gefahren. Meine Mutter feierte selbstverständlich jeden Freitag regelmäßig den Schabbat 5. Alle Juden feierten den Schabbat, das hat es nicht gegeben, das ist nur heute so, dass man das vernachlässigt. Wenn einer die Religion nicht beachtete, dann hatte er ein Problem - ein großes Problem!

Ich kannte einen Burschen in Brody, der war vielleicht 23 oder 24 Jahre alt. Man redete darüber, dass er mit einer Christin befreundet ist. Und das war sehr schlecht für ihn, den hat man aus dem Tempel heraus geschmissen. So war das damals. Er hatte das zwar im Geheimen gemacht, weil es ja niemand wissen durfte, aber Brody war eine kleine Stadt. Wenn er nur einmal mit ihr spazieren ging, hatte es schon die ganze Stadt gesehen.

  • Während des Krieges

1941 besetzten die Deutschen Lemberg. In zwei oder höchstens in drei Wochen fingen sie die Juden. Izu, so hatten wir unseren Buben genannt, war zehn Jahre alt, als die Deutschen kamen und ihn und meine Frau Maria ermordeten. Meine Mutter wurde 1942 auch von den Deutschen ermordet, sie war 60 Jahre alt. Meinen Bruder Elias haben die Polen erschlagen.

Es war Hochsommer. Mich haben die Deutschen von der Straße weggefangen. Mein Freund und ich wurden auf einen Sportplatz geführt, und ich habe nicht geahnt, was passieren wird. Der Sportplatz war außerhalb der Stadt, dort waren schon ungefähr 2000 Menschen versammelt. Dann ist ein Deutscher gekommen und hat gerufen: ‚Handwerker heraustreten!‘

Ich hatte ein Handwerk. Es waren mehrere, die ein Handwerk hatten, aber die haben sich nicht getraut, heraus zu treten. Die haben gemeint, sie treten heraus, um erschossen zu werden. Ich habe mich getraut, deshalb lebe ich jetzt, sonst wäre ich schon 60 Jahre tot.

In dem Lager, in dem ich dann war, waren sicher 10 000 Juden eingesperrt.
Von Anfang an wurden jeden Tag Menschen heraus geführt, umgebracht und verbrannt. In der Stadt begann es fürchterlich zu stinken, denn wenn Fleisch verbrennt, ist das ein mieser Geruch.

Ich habe SS-Männer gekannt, die haben mir Fleisch zum Essen gebracht, denn ich war als Schneidermeister im ganzen Lager bekannt. Wenn einer eine Hose repariert haben wollte, hab ich von ihm was zu Essen bekommen. Geld haben wir keines gebraucht, das Lager war außerhalb der Stadt, da gab es keine Geschäfte.

Im Februar 1943 wurde das Lager liquidiert. Im Lager hatte ich einen Burschen, einen Polen, kennen gelernt, der das Lager bewachte. Einmal habe ich es riskiert und ihn angesprochen und ihm von meinen Fluchtgedanken erzählt. Er hat gesagt:‚Gut, wenn du vom Lager flüchtest, komm zu mir.’

Er hat mir seine Adresse gegeben, aber das war eine riskante Sache, weil ich nicht wusste, ob der Pole mir wirklich helfen wird. Eines Tages in der Früh sind die Menschen wie immer aufgestanden, um zur Arbeit zu gehen. Auch ich bin aufgestanden und habe gesehen, wie alle zusammen getrieben wurden. Da habe ich keine Minute gewartet und bin auf die andere Seite des Zauns gesprungen.

Ich hatte keine andere Möglichkeit, also musste ich das Risiko eingehen und zu dem Polen gehen. Ich bin zu seinem Haus gegangen und klopfte an. Er öffnete die Tür und ich sah, dass er mit einer Frau im Bett war. Er wusste, dass das Lager liquidiert wurde. Er zog sich an und ging mit mir genau den Weg ins Lager. Ich war überzeugt, dass er mich zurück ins Lager führt, aber ich konnte nicht flüchten. Er brachte mich zur anderen Seite des Lagers zu einem Haus sagte:
‚Warte hier, ich gehe hinein fragen.’

Dann kam er wieder heraus und sagte:

‚Die Burschen können dich nicht nehmen, weil auch Ukrainer aus dem Lager geflüchtet sind‘ - die Ukrainer waren viel ärger als die Deutschen. Dann führte er mich zu einem zerbombten Haus und gesagt, er werde morgen zu mir kommen. Ich wusste nicht, ob das gut oder schlecht ist, aber ich mir blieb kein Ausweg. Ich habe zehn Tage auf ihn gewartet, und er ist nicht gekommen.

Durch meine Schneiderwerkstätten kannte ich viele Menschen in der Stadt. Ich kannte auch eine ukrainische Familie, das waren vielleicht vier oder fünf Geschwister. Eine Schwester war die Lehrerin meines Buben, er war ja schon in die erste Klasse gegangen. Wir verstanden uns sehr gut, wir waren wie eine Familie. Ich dachte, dass sie mir helfen werden und ging zu ihnen.

Die Lehrerin war nicht da, aber als ihre Mutter mich sah, hat sie ein Kreuz gemacht, weil sie alle überzeugt gewesen waren, dass ich nicht mehr lebe. Die Stadt war ja schon ‚judenfrei‘. Sie war sich 100 Prozent sicher, dass ich nicht mehr existiere. Sie sagte: ‚Geh schnell weg, meine Tochter hat einen SS Mann geheiratet. Wenn sie nach Hause kommen, wird der SS Mann dich erschießen.’

Dann gab sie mir zwei Stück Brot mit Butter; und ich musste gehen. Ich hatte großen Hunger durch die zehn Tage ohne Essen und habe ein Stück Brot gegessen. Es dauerte zwei Minuten, und das Brot war schon wieder draußen. Mein Magen konnte das nicht verdauen. Heute wundere ich mich, wie ich das geschafft habe, ohne Essen und ohne Trinken.

Ich hatte noch andere christliche Bekannte und ich versteckte mich auf deren Dachboden. Es war kalt und ich habe mir die Füße fast abgefroren. Ich bin zu einer alten Frau gegangen und bat sie um warmes Wasser für meine Füße. Das Wasser war zu heiß und meine Füße schwollen an.

Als meine Füße dann so geschwollen waren, konnte sie mich nicht hinaus werfen - ich konnte ja nicht mehr gehen. Nach drei Monaten wollte sie mich loswerden, denn in der Stadt, auf den Bäumen und überall sind Zettel gehangen, auf denen stand: Wer einem Juden hilft, der wird umgebracht. Da wurden ganze Familien erschossen. Das war eine Katastrophe. Dieses eine Jahr war ärger als im Lager.

Ich ging dann von einer alten Dame zur anderen, ich kannte zum Glück viele Leute.

  • Nach dem Krieg

Das Ende des Krieges erfuhr ich dadurch, dass die Nachbarn des Hauses, in dem ich mich versteckt hatte, darüber sprachen, dass die Russen schon da sind. Heute hört man alles im Fernsehen und im Radio, aber damals hatte man keine Informationsquellen. Und wie ich dann hörte, dass der Krieg zu Ende ist, bin ich in die Stadt gegangen.

Das war ein Wahnsinn! Ich kam zu einem Markt und dachte, dass ich etwas zu Essen bekomme. Da stand ein Wagen voll mit Obst, die Bauern hatten es aus den Dörfern gebracht. Ich ging zu einer Bäuerin und sie fragte mich, ob ich Jude bin. Diese Frau habe ich dann geheiratet.

Meine zweite Frau Helena Szerman war auch Jüdin. Sie war 1914 in Russland geboren, und sie war so arm, dass kann man sich nicht vorstellen. Sie hatte eine Tochter Kristina, die war drei Jahre alt. Sie lebten während des Krieges in einem Dorf. Sie konnte gut sticken und hatte für die Bauern ein Jahr Stickereien gemacht.

Meine zweite Frau und ich heirateten. Sie war sehr fromm, ihr Vater war Oberkantor. Sie kam aus einem Haus mit Einhundert Prozent Jüdischkeit. In Polen hatte kein gewöhnlicher Mensch Oberkantor werden können. Wenn man nur einen Verdacht hatte, dass er nicht sehr religiös lebt, war es aus mit ihm. Wir lebten dann aber eher traditionell.

In der Stadt Bielawa bei Breslau, in der wir dann lebten, war keine Synagoge. Aber es war ungefähr zwanzig Kilometer weiter eine größere Stadt, dort war eine Synagoge.
Ich fuhr aber nur zu den Feiertagen in die Synagoge. Jeden Tag hinfahren und herfahren, das wäre sehr schwer gewesen. Sogar die, die dort wohnten, gingen nicht jeden Tag in die Synagoge beten.

Im Jahre 1949 wurde unsere Tochter Sabina in Bielawa [Polen] geboren.

Zwölf Jahre nach dem Krieg emigrierten viele polnische Juden nach Israel, nach Israel durfte man in dieser Zeit ausreisen.

Meine Stieftochter Kristina ließ ich nach Israel fahren. Viele polnische Juden verließen Polen, auch Kristinas Freunde, um in Israel zu leben. In Israel lernte sie dann auch ihren Mann kennen. Sie arbeitete in einem Spital und ihr Mann ist Arzt. Sein Name ist Harry, und er verliebte sich in sie, denn sie war eine schöne Frau. Später gingen sie nach Amerika. Sie ist jetzt etwas über sechzig Jahre alt. Ihre ganze Familie hat mir zu meinem 100. Geburtstag ein Telegramm geschickt. Darauf steht auch: ‚Harry send his love to you‘.

Meine Schwester Sabina hatte den Krieg überlebt und einen Wiener geheiratet. Sie reiste gleich nach dem Krieg nach Wien aus. Die Menschen begannen aus Polen auszureisen, weil sie in Polen nicht gut leben konnten. Nach dem Krieg war alles teuer. Ich verdiente das Geld zum Leben mit meiner Schneiderei. Wenn ich heute Geld brauche, kann ich das auch heute noch verdienen, aber zum Glück brauche ich das nicht, denn ich habe genug in meinem Leben gearbeitet.

Meine Schwester schickte mir Einreisepapiere aus Wien, damit ich auch in Wien leben kann. Sie schrieb mir, dass sie mit mir zusammen sein will. Das war nicht so leicht: Einmal hatte sie alles geschickt, aber ich konnte nicht fahren, weil der Antrag auf Ausreise abgewiesen wurde.

Polen war ein kommunistisches Land und ein Pole konnte nicht herumreisen im Kommunismus. Dann schickte meine Schwester die Papiere noch einmal. Und das zweite Mal, 1957, haben sie es anerkannt. Ich durfte als der Bruder meiner Schwester fahren, aber ohne meine Frau. Unsere gemeinsame Tochter habe ich mitgenommen.

Das erste Jahr haben meine Tochter und ich bei meiner Schwester gewohnt. Meine Wohnung bekam ich dann durch einen Zufall. Meine Schwester hatte eine Freundin, und die Freundin war die Direktorin in einer Bank und konnte mir die Wohnung besorgen.

Als ich hergekommen bin, war das nicht so leicht, wie man sich das vorstellt. Ich kam in eine fremde Ortschaft und musste gleich Geld verdienen. Zu Hause schneidern ist nichts wert, da kann man nichts verdienen. Ich habe eine Konfektionsfabrik im 2. Bezirk, in der Glockengasse, das ist eine Seitenstraße von der Taborstraße, gegründet - die gibt es noch heute.

Das Geld für die Fabrik hatte ich von meiner Schwester und ihrem Mann bekommen, die besaßen ein Uhrengeschäft. Ich hatte drei bis vier Angestellte, manchmal habe ich auch acht Leute beschäftigt. Nach einem Jahr durfte meine Frau auch nach Wien kommen.

Meine Schwester starb vor 14 oder 15 Jahren an Krebs. Sie hatte sich gewünscht, dass sie nach ihrem Tod nach Israel überführt und dort begraben wird. Als sie nach Israel überführt wurde, bin ich mitgefahren, ich bin doch der Bruder. Ich war nur eine sehr kurze Zeit dort.

Es war mitten in der Woche, und ich musste meine Angestellten bezahlen. Meine Arbeiter waren alle in der Krankenkasse eingeschrieben und wenn ich sie bezahlte und sie arbeiteten nicht, konnte ich mir das nicht leisten, denn das kostete viel Geld. Nur wenn meine Angestellten Urlaub machten, konnte ich auch Urlaub machen.

Ich war acht Tage in Israel, weil man sieben Tage für Tote Schiwa 6 sitzen muss.
Das war schwer für mich, weil es mich viel Geld kostete. Nicht nur die Spesen, auch dort wohnen in einem Hotel war nicht billig, und ich hatte auch sonst viele Ausgaben für die Beerdigung.

Meine Frau arbeitete in Wien als Gesangspädagogin. Sie hatte in Russland studiert und arbeitete dann in der Oper in Wien. Sie starb 2001 in Wien.

Unsere Tochter Sabina machte in Wien die Matura. Im Sommer fuhr sie ihre Schwester Kristina in Amerika besuchen. Sie ist dort geblieben und studierte Jura. Sie besucht mich regelmäßig, auch zu meinem 100. Geburtstag hat sie mich in Wien besucht.

Ich habe zwei Enkelkinder.

Vier Mal in der Woche gehe ich ins Maimonides-Zentrum [jüdisches Seniorenheim und Tagesstätte in Wien]. Ich bin dort ein Held mit meinen 100 Jahren, ich kriege halt nicht genug vom Leben. Morgens um neun Uhr kommen die Leute zusammen, dann gibt es ein Frühstück.

Nach dem Frühstück setzt man sich hin, redet und liest die Zeitung, wie in einem Kaffeehaus. Es ist sehr nett. Wir sitzen zusammen, man erzählt Witze und spricht über verschiedene Erlebnisse. Die Bedienung ist sehr gut dort. Es gibt zwei Betreuer, die alles für uns machen.

Dann gibt es Mittagessen und nach dem Essen ist eine Stunde Ruhe, da kann man im Schlafsessel liegen. Um drei Uhr gibt es eine Jause, danach ist immer eine Stunde Musik oder Gesang. Einmal die Woche kommt eine Frau und macht Tanz und Gymnastik mit uns, damit man sich bewegt. Und manchmal gibt es Konzerte. Am Montag zum Beispiel kommt der Oberkantor und wird ein bisschen singen. Bis um vier Uhr ungefähr ist man dort. Um vier Uhr Nachmittags fahre ich wieder in meine Wohnung zurück.

Zu meiner Geburtstagsfeier ist der Oberrabbiner Eisenberg gekommen. Er hat eine Ansprache gehalten, es war sehr feierlich. Gesundheitsstadträtin Elisabeth Pittermann hat mich auch geehrt. Sie hat mir einen Blumenstrauß im Altersheim, im Maimonides-Zentrum, überreicht. Es waren viele Leute dort. Ich bin immer samstags in den Tempel gegangen und auch heute noch, mit 100 Jahren, gehe ich regelmäßig - morgen zum Beispiel.

  • Glossar

1 Schächter [Schochet; Schlachter], der nach der Vorschrift für koscheres Schlachten, schlachtet.

2 Bar Mitzwa: [od. Bar Mizwa; aramäisch: Sohn des Gebots], ist die Bezeichnung einerseits für den religionsmündigen jüdischen Jugendlichen, andererseits für den Tag, an dem er diese Religionsmündigkeit erwirbt, und die oft damit verbundene Feier. Bei diesem Ritus wird der Junge in die Gemeinde aufgenommen.

3 Cheder: Schulzimmer, Grundstufe der Unterweisung im Judentum im Erziehungswesen der osteuropäischen Juden

4 Jom Kippur: der jüdische Versöhnungstag, der wichtigste Festtag im Judentum.

Im Mittelpunkt stehen Reue und Versöhnung. Essen, Trinken, Baden, Körperpflege, das Tragen von Leder und sexuelle Beziehungen sind an diesem Tag verboten.

5 Schabbat [hebr.: Ruhepause]: der siebente Wochentag, der von Gott geheiligt ist, erinnert an das Ruhen Gottes am siebenten Tag der Schöpfungswoche. Am Schabbat ist jegliche Arbeit verboten. Er soll dem Gottesfürchtigen dazu dienen, Zeit mit Gott zu verbringen.
Der Schabbat beginnt am Freitagabend und endet am Samstagabend.

6 Schiwa sitzen: Nach dem Begräbnis beginnt die Schiwa. Sie dauert sieben Tage. Die Trauernden bleiben eine Woche lang zu Hause und werden von Freunden und Bekannten besucht. Der Tag des Begräbnisses ist der erste Schiwatag. Schiwa endet am Morgen des siebenten Tages nach dem Begräbnis.